Neue Sichtweisen auf die Komponistinnen ‚neuer‘ Musik

Rezension von Kordula Knaus

Sally Macarthur:

Towards a Twenty-First-Century Feminist Politics of Music.

Aldershot: Ashgate 2010.

206 Seiten, ISBN 978-1-4094-0982-3, € 66,99

Abstract: Sally Macarthur unternimmt mit Rückgriff auf Philosophien von Deleuze und Guattari bzw. deren feministische Weiterentwicklung u. a. durch Grosz und Braidotti eine Neupositionierung der Figur der Komponistin in der zeitgenössischen Musikproduktion. Auf der Grundlage von Denkkonzepten wie ‚Differenz‘, ‚Virtualität‘, ‚Werden‘ oder ‚Deterritorialisierung‘ dekonstruiert Macarthur die Master-Narrative von autonomer, innovativer, schöpferischer, männlicher Musikproduktion. Ihre Thesen exemplifiziert Macarthur durch die Analyse der Musik der Komponistinnen Sofia Gubaidulina, Elena Kats-Chernin und Anne Boyd sowie in der Auseinandersetzung mit den Bedingungen und Inhalten des gegenwärtigen Kompositionsunterrichts.

Das Denken Gilles Deleuzes mit (insbesondere ‚neuer‘) Musik in Verbindung zu bringen, ist in den letzten Jahren vor allem in der anglo-amerikanischen Musikwissenschaft virulent geworden, wovon Sammelbände wie Deleuze and Music (Ian Buchanan, Claire Colebrook [Hg.]: Deleuze and Music. Edinburgh 2004) oder Sounding the Virtual. Gilles Deleuze and the Theory and Philosophy of Music (Brian Hulse, Nick Nesbitt [Hg.]: Sounding the Virtual: Gilles Deleuze and the Theory and Philosophy of Music. Aldershot 2010) ein beredtes Zeugnis ablegen. Eine längere Tradition hat demgegenüber die Verknüpfung von Gilles Deleuze (sowie Deleuze und Félix Guattari) mit feministischen Ansätzen, wie sie sich in den Schriften von Julia Kristeva, Elizabeth Grosz oder Rosi Braidotti zeigt. Sally Macarthur nimmt beide Verbindungslinien als Ausgangspunkt, um die Positionierung der Figur der Komponistin zeitgenössischer Musik für das 21. Jahrhundert neu zu bestimmen. Damit fügt Macarthur ihren bisherigen Veröffentlichungen zu Musik und Feminismus (vgl. dies.: Feminist Aesthetics in Music. Westport 2002; [zus. mit Cate Poynton] [Hg.]: Musics and Feminism. Sydney 1999) ein neues Kapitel hinzu.

Master-Narrative dekonstruieren

Im ersten Teil des Buches werden zunächst wichtige Bestandteile der Denkkonzepte dieser philosophischen Traditionen kurz vorgestellt: die anti-hierarchische Konzeption von Differenz, die Themen Deterritorialisierung und Virtualität, Flucht- und Segmentierungslinien sowie das Prinzip des Werdens. Macarthur identifiziert in der Folge einige Probleme, mit denen die Figur der Komponistin in der zeitgenössischen Musik (sowie in der wissenschaftlichen Untersuchung zeitgenössischer Musik) behaftet ist, und bringt Vorschläge dafür, wie die Master-Narrative, die in den gängigen Betrachtungsweisen ‚neuer‘ Musik existieren, unter Anwendung Deleuzescher Ideen neu gedacht werden können. Dabei geht es ihr vor allem um die Etablierung positiver Denkmodelle. Die feministische Forschung, so Macarthur, habe bisher lediglich festhalten können, dass die Musik von Frauen in Konzertprogrammen fehle. Die Überlegung, die Musik von Frauen als ‚werdende‘ Musik anzusehen und Virtualität zu denken, ermögliche hingegen einen „way of thinking that is characterised by an ever-changing and interactive, limitless universe of positive concepts and thoughts patterns.“ (S. 40) Kritik übt Macarthur vor allem an der traditionellen Figuration des Komponisten sowie an deren Vermittlung im Kompositionsunterricht: Noch immer herrsche hier fortschrittsgeleitetes Denken, der Komponist werde als autonomer heroischer Schöpfer gedacht, atonale Idiome und Innovationgeist bestimmten die Kompositionsästhetik. In Deleuzes und Guattaris Maschinen-Assemblage sieht Macarthur eine Möglichkeit, diese ‚modernen‘ Ideen zu dekonstruieren und dabei über Modelle von Barthes oder Foucault hinauszugehen. Die „composing-assemblage“ könne als ein Netzwerk unter ständiger Konstruktion, Konstituierung und Re-Konstituierung gesehen werden (vgl. S. 60). Ferner möchte Macarthur auch die öffentliche Positionierung ‚neuer‘ Musik überdenken. Zu sehr werde auch hier die Musik im Zwang kommerzieller Interessen als autonom und innovativ definiert, anstatt die Musikpraxis „in a state of flux, that is a non-hierarchical, non-profit-making, non-individualistic, multi-differentiated model of interrelation“, anzusehen. (S. 83)

Die Komponistin mit Deleuze denken

Im zweiten Teil des Buches wendet Macarthur die Deleuzesche Philosophie auf die Auseinandersetzung mit drei Komponistinnen an: Sofia Gubaidulina, Elena Kats-Chernin und Anne Boyd. Macarther rekurriert hierbei vor allem auf Deleuzes Konzept der Individuation, wonach Subjekte kulturell bestimmt, zugleich aber immer einzigartig sind. Sie stellt fest, dass jede Komponistin einen spezifischen Umgang mit der dominanten Ästhetik einer atonalen Musik habe. Für Gubaidulina adaptiert Macarthur Judith Halberstams Konzept der ‚female masculinity‘, da die Kompositionen eine exzessive Maskulinität vermittelten. In Kats-Chernins Musik offenbare sich eine ‚Fluchtlinie‘ im Raum zwischen der dominanten männlichen Ästhetik und dem ‚Anderen‘, das Macarthur hier im Einfluss von Popularmusik sieht, während Anne Boyd durch die Tonalität und die Einflüsse asiatischer Musik „the idea of the ‚feminine‘ as a ‚virtual‘ force“ (S. 143) vermittle. Den Abschluss des Buches bildet die Darstellung einiger Beispiele von Musik-Projekten, in denen versucht wird, eingetretene Pfade der ‚neuen‘ Musik zu verlassen und so im Geist der Philosophie Deleuzes zu wandeln, wie etwa ein Projekt von Danielle Bentley, die in einem Musikfestival Cross-Genre-Beziehungen der Musik ins Zentrum rückt.

Das ‚Alte‘, das ‚Neue‘ und das ‚Andere‘

Feministische Positionen in der Musikwissenschaft einzunehmen und zu benennen, erscheint gegenwärtig wenig präsent zu sein. Die etablierte akademische Forschung hat sich von Frauenforschung und feministischer Musikwissenschaft in Richtung einer Genderforschung entwickelt, die von politischer Positionierung eher Abstand nimmt. Das Buch Sally Macarthurs, das sich ganz explizit und auch im Titel ersichtlich politisch-feministisch positionieren will, liest sich gerade im Hinblick auf diesen Status quo erfrischend, auch weil es ein Denken vermittelt, das einen neuen konstruktiven Umgang mit alten feministischen Problemen vermittelt. Beeindruckend sind dabei vor allem die Beispiele aus dem Kompositionsunterricht, der hier in einer neuen Weise als kollaborativer Umgang mit Gesellschaft und Umwelt gedacht wird. So liegt der Mehrwert des Buches insgesamt darin, Denkanstöße zu zentralen Aspekten des gegenwärtigen Diskurses über ‚neue‘ Musik zu liefern und zum Weiterdenken zu animieren, beispielsweise über das Verhältnis von etablierten Institutionen und alternativen Musikszenen sowie die jeweiligen Handlungsmöglichkeiten von Komponistinnen und Komponisten, über die ästhetischen Bedingungen zeitgenössischer Musik oder über Fragen dominant männlicher Geschichtsschreibung. Dagegen hinterlässt die konkrete Verwendung dieser Denkkonzepte und die Frage, ob sie tatsächlich zu weitreichenden Veränderungen führen könnten, einen eher ernüchternden Eindruck. Die Anwendung Deleuzescher Konzepte auf die drei Komponistinnen Gubaidulina, Kats-Chernin und Boyd vermittelt gerade im Hinblick auf die Kategorie Geschlecht eine etwas essentialistische Sichtweise (etwa wenn atonal immer mit männlich und tonal immer mit weiblich in Verbindung gebracht wird). Es wäre interessant, sich vergleichend dazu die Musik von Komponisten unter Deleuzescher und feministischer Perspektive vorzunehmen, um gerade diese Dichotomien aufzubrechen bzw. zu kontextualisieren. Auch die von Macarthur gewählten Beispiele einer feministischen „Composition of Becoming“ (S. 151) sind dem Bereich marginalisierter Musikszenen zuzurechnen und tangieren eine Mainstream-Avantgarde kaum. Die ‚Andersheit‘ der Figur der Komponistin kann wohl nur dekonstruiert werden, wenn sie Präsenz in den dominierenden Institutionen ‚neuer‘ Musik erhält. Trotz der „positive concepts and thoughts patterns“ von Macarthur müssen wir uns das weiterhin für die Zukunft wünschen.

URN urn:nbn:de:0114-qn123030

Dr. Kordula Knaus

Universität Graz

Institut für Musikwissenschaft

Homepage: http://www.uni-graz.at/kordula.knaus

E-Mail: kordula.knaus@uni-graz.at

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