Christine Löw:
Frauen aus der Dritten Welt und Erkenntniskritik?
Die postkolonialen Untersuchungen von Gayatri C. Spivak zu Globalisierung und Theorieproduktion.
Sulzbach im Taunus: Ulrike Helmer Verlag 2009.
320 Seiten, ISBN 978-3-89741-293-4, € 29,90
Abstract: Christine Löw setzt sich in ihrer politikwissenschaftlichen Dissertation mit dem postkolonial-feministischen Denken Gayatri C. Spivaks auseinander und zielt in ihren sorgfältigen, überwiegend affirmativen Ausführungen darauf, Spivaks Überlegungen für die Politikwissenschaft nutzbar zu machen. Hierzu diskutiert sie deren theoretische Verortung in kritischen Ansätzen von Marxismus, Feminismus und Dekonstruktion sowie ihre Reflexionen zur epistemischen Gewalt westlichen Denkens gegenüber dem Süden und illustriert ihre Thesen zur Subalternität an vier ausgewählten politischen Themenfeldern. Zentrale Verdienste des Buches liegen darin, Spivaks Arbeiten in den deutschsprachigen sozialwissenschaftlichen Kontext einzuschreiben und weiterführende Forschungsfragen zu Globalisierung und Erkenntnisproduktion aufzuwerfen.
Eine gründliche Auseinandersetzung mit dem postkolonial-feministischen Denken Gayatri C. Spivaks im Hinblick auf die Analyse aktueller Globalisierungs- und Rekolonialisierungsprozesse war längst überfällig. Christine Löw hat diesem Vorhaben ihre politikwissenschaftliche Dissertation gewidmet. Ihre Ausgangsthese lautet, „dass westliche Theorien nicht in der Lage sind, die Unterdrückung, die Kämpfe und die Subjektivitäten von Dritte-Welt-Frauen zu erfassen, zu konzeptualisieren und zu begreifen“ (S. 16). Kritische Ansätze des Marxismus, der Dekonstruktion und des Feminismus enthielten eurozentrische Prämissen, die aufzudecken seien. Die Geschichte des Imperialismus und Kolonialismus sei bisher nicht angemessen berücksichtigt worden. Dies führt nach Löw dazu, dass sich der Westen in kritischen Einlassungen beispielsweise zu Menschenrechten erneut ins Zentrum setzt, und zwar nicht nur im ökonomischen und politischen Bereich, sondern auch in den Wissens- und Erkenntnissystemen.
Das Herzstück der Ausführungen (Kapitel 3) bilden fallstudienartige Untersuchungen zu vier auf den ersten Blick „disparat wirkenden“ (S. 16) Themenkomplexen, die dazu beitragen sollen, den „Bereich postkolonialer Ansätze auf die Politikwissenschaft zu erweitern“ (S. 17). Diesem fast zwei Drittel des Buches umfassenden Kapitel vorangestellt ist ein „Abriss der intellektuellen Situierung von Spivaks Überlegungen“ (S. 19) zu Marxismus, Feminismus und Dekonstruktion als deren theoretischen Referenzen, und zwar sowohl im Verhältnis zueinander als auch in Bezug auf postkoloniale Theorien (Kapitel 2). Eingerahmt werden diese beiden Kapitel durch eine Einleitung (Kapitel 1) sowie Fazit und Ausblick (Kapitel 4), die streckenweise etwas langatmig, fast schon (zu) akribisch, geraten sind.
Als das Besondere an Spivaks Reflexionen im Kontext postkolonialer Theorien hebt Löw deren „dezidiert geschlechtsspezifische[] Perspektive“ (S. 31) hervor. Im Gegensatz zu postkolonialen Denkern wie Edward Said und Homi Bhaba fokussiere Spivak das „vergeschlechtlichte subalterne Subjekt, d. h. die auf dem Lande lebende Frau aus den untersten gesellschaftlichen Schichten Indiens und ihr Verhältnis zur westlichen Feministin“ (S. 31). Während die „Dritte-Welt-Frau“ innerhalb der westeuropäischen und US-amerikanischen Frauenforschung lange Zeit „als das Paradigma der Anderen“ (S. 31, Herv. i. O.) gegolten habe, hinterfrage Spivak diese Annahme ständig kritisch und wirke mit Hinweisen auf die unterschiedliche geopolitische Verortung von Frauen in der Ersten und der Dritten Welt dieser von ihr so benannten „epistemischen Gewalt“ (S. 20) entgegen.
An zwei Beispielen aus Spivaks umfangreichem Werk demonstriert Löw, wie innerhalb feministischer Theoriebildung Erkenntnisse entwickelt würden, die immer aufs Neue den Westen als Zentrum hervorbrächten. Aufgedeckt wird zum einen das Muster, dass Überlegungen aus dem Westen als universell gälten, solange nicht explizit das Gegenteil bewiesen sei, während Theorien aus dem Süden von vornherein als Einzel- oder Spezialfall angesehen würden. Ein zweites Muster besteht nach Löw darin, dass Untersuchungen westlicher Feministinnen eine größere Systematik zugesprochen bekämen, da Feministinnen aus dem Süden ja noch nicht so weit und theoretisch fortgeschritten seien wie ihre westlichen ‚Schwestern‘.
Schließlich geht die Verfasserin auf Spivaks Bezüge zu den Arbeiten Derridas ein. Deutlich wird, wie Spivak Derridas Überlegungen auf politische Fragen, beispielsweise von Bezeichnungspraxen, der Trennung des Philosophischen vom Ökonomischen sowie zu Ethik, Recht und Gerechtigkeit, überträgt.
Im Hauptteil der Arbeit will Christine Löw aufzeigen, was eine postkolonial-feministische Betrachtung zu vier von ihr als zentral bezeichneten politischen Themenfeldern leisten kann. Als erstes analysiert sie hierzu Spivaks Überlegungen zu Intellektuellen und zu politischer Repräsentation vor dem Hintergrund einer zweigeteilten Welt. Hier steht die viel zitierte These Spivaks „the subaltern cannot speak“ im Zentrum. Zweitens erörtert Löw Spivaks dekonstruktive Lesart der Marx’schen Arbeitswerttheorie im Hinblick auf deren fortbestehende Relevanz für eine Analyse des ökonomischen und kulturellen Ungleichheitsverhältnisses zwischen Norden und Süden. Drittens diskutiert sie Spivaks Ausführungen zur illegitimen Aneignung und Ausbeutung von Biodiversität und indigenem Wissen im ländlichen Süden infolge der Finanzialisierung des Globus. Schließlich beleuchtet die Autorin Spivaks Einlassungen zum Menschenrechtsdiskurs und die daran anschließenden Reflexionen zu einer neuen Pädagogik, die Frauen aus dem Süden befähigen soll, sich selbst als Agentinnen von Menschenrechten zu begreifen.
Mit diesen Fallstudien gelingt es Löw, Spivaks Arbeiten einem breiteren politik- bzw. sozialwissenschaftlich interessierten Publikum nahezubringen und sie in aktuelle politische Diskussionen zu Phänomenen und Problemen der Globalisierung einzuschreiben. Gleichwohl ist die Lektüre über weite Strecken hinweg herausfordernd, denn die Verfasserin bleibt sehr eng und über weite Strecken auch überwiegend affirmativ Spivaks Schriften verhaftet, die sie gewissenhaft in breitere theoretische und politische Kontexte einbettet. Hilfreich gewesen wäre hier eine stärkere Zuspitzung der Argumentation in Thesenform und eine Straffung der häufig etwas ausholend wirkenden Ausführungen.
Erfrischend lesen sich die letzten elfeinhalb Seiten des Buches. Diese sind dem Ausblick auf Themenfelder gewidmet, die Löw aus politikwissenschaftlicher Perspektive für einen postkolonial-feministischen Ansatz, der die aktuellen Veränderungen miteinbezieht, für notwendig erachtet. Hier, in der Schlusspassage, scheint sich die Autorin von der intellektuellen Autorität Spivaks endlich ein Stück weit lösen und selbst (wieder) zu einer eigenen Sprache finden zu können.
In diesem Abschnitt werden spannende (Forschungs-)Fragen aufgeworfen, die an Spivaks Ausführungen anschließen und zugleich eigene Akzente der Verfasserin erkennen lassen. Um nur einige zu nennen: Wie wird ein subalternes – ländliches und/oder indigenes – Subjekt erzeugt, das die Ausbeutung in den Feldern der Biopiraterie und der menschlichen Gentechnik zu fordern scheint? Wie könnte ein postkolonial-feministischer Blick auf die Entwicklungen und Erfolge der offiziellen internationalen Frauenpolitik eröffnet werden? Wie könnte die neue Subalterne im Hinblick auf das neue elektronische Finanzkapital spezifiziert werden? Spätestens mit diesen Fragen werden die Bezüge postkolonial-feministischen Denkens zu vermeintlich originären politikwissenschaftlichen Themenstellungen offensichtlich. Damit löst die vorliegende Schrift dieses eingangs benannte Ziel ein.
Schade ist allerdings, dass bei aller argumentativen Sorgfalt gerade auch im Hinblick auf die Integration postkolonial-feministischen Denkens in vermeintlich als allgemein bezeichnete wissenschaftliche Denkweisen Reflexionen auf zentrale Kategorien etwas zu kurz kommen. Zu fragen ist, inwiefern die Rede von „der“ „Dritten-Welt-Frau“ als „Klammer“ (S. 16) und von „den“ westlichen Feministinnen oder beispielsweise auch die die ganze Arbeit durchziehende Gegenüberstellung von „dem“ Westen und „dem“ Süden nicht auch unbeabsichtigte Akte epistemischer Gewalt sind. Affirmiert dieses Sprechen nicht wiederum den Gegenstand der postkolonial-feministischen Kritik und verfängt sich damit in den Eurozentrismen, die doch eigentlich dekonstruiert werden sollen? Zu den Selbstverständlichkeiten (postkolonial-feministischen) kritischen Denkens heute sollte auch eine Sensibilität für die verwendeten Begrifflichkeiten gehören, gerade wenn diese Gegenstand der Überlegungen sind.
URN urn:nbn:de:0114-qn122044
Prof. Dr. Heike Kahlert
Ludwig-Maximilians-Universität München
Institut für Soziologie, Lehrstuhlvertretung „Soziale Entwicklungen und Strukturen“
Homepage: http://www.heike-kahlert.de
E-Mail: heike.kahlert@soziologie.uni-muenchen.de
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