Wissen, beruflicher Habitus und Verwaltungspraxis: Einflussreiche Größen für die Prostitutionspolitik in Deutschland, Polen und Tschechien

Rezension von Eva Buchholz

Claudia Vorheyer:

Prostitution und Menschenhandel als Verwaltungsproblem.

Eine qualitative Untersuchung über den beruflichen Habitus.

Bielefeld: transcript Verlag 2010.

433 Seiten, ISBN 978-3-8376-1412-1, € 32,80

Abstract: Die wissenssoziologische Arbeit untersucht die beruflichen Habitusformationen von sozialen Akteur/-innen in deutschen, polnischen und tschechischen Kommunen, die in ihrem beruflichen Alltag an der Regulierung von Prostitution beteiligt sind und/oder sich der Bekämpfung und Prävention von Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung bzw. der Betreuung von Betroffenen widmen. Anhand 45 Expert/-inneninterviews wurden die Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsmuster von Verwaltungsakteur/-innen aus Polizeibehörden, Ordnungs- und Gesundheitsämtern sowie von Praktiker/-innen aus der Sozialen Arbeit rekonstruiert. Die Untersuchung liefert wertvolle Einblicke in die Verwaltungspraxis und in die sie konstituierenden Faktoren, die in der Analyse von Prostitutionspolitiken sonst häufig unbeachtet bleiben.

Wissensreservoir Prostitutionsdiskurs

Der gesellschaftliche Diskurs über Prostitution macht nach wie vor große Unterschiede in der Bewertung von Prostitution sichtbar. Diese gründen sich auf eine Vielzahl an gesellschaftlichen und/oder religiösen Werten und Moralvorstellungen, auf geschlechtstypische Rollenzuschreibungen sowie auf die unterschiedliche Auslegung von Grund- und Menschenrechten. Dabei lassen sich verschiedene konträre Standpunkte ausmachen: Während sich die eine Seite wünscht, dass Prostitution destigmatisiert und als ‚normale‘ Dienstleistung und als ,Beruf‘ anerkannt wird, vertreten andere die Auffassung, dass Prostitution per se eine Verletzung der Menschenwürde und der Menschenrechte der sie Ausübenden darstellt und diese viktimisiert. Eine dritte Position macht Prostituierte zu Täter/-innen, die die Gesellschaft durch ihr ‚unmoralisches‘ Handeln schädigen. Zwischen diesen Extrempositionen gibt es zahlreiche Zwischenpositionen und ganz unterschiedliche politische Forderungen, die hieraus resultieren. Zwei Tatsachen können als Fakt angesehen werden: Erstens ist das Thema ‚Prostitution‘ noch immer ein gesellschaftliches Tabu, und zweitens ziehen sich die oben skizzierten Positionen durch alle gesellschaftliche Schichten.

Letztgenannter Aspekt ist auch bei den vielfältigen Akteur/-innen, die im Bereich der Verwaltung an der Regulierung von Prostitution beteiligt sind, zu beobachten. Das Prostitutionsgesetz (ProstG) von 2002 legalisierte zwar die Ausübung von Prostitution und schuf die Voraussetzungen für die Ausgestaltung von mehr Arbeitsrechten im Kontext prostitutiver Tätigkeiten. Doch nach wie vor existieren eine Vielzahl an Unklarheiten und Graubereichen im deutschen Recht und insbesondere im Verwaltungsrecht. Beispiele hierfür sind das Baurecht, das Ordnungsrecht oder das Polizeirecht. Daher ist zu beobachten, dass das Prostitutionsgesetz sehr unterschiedlich ausgelegt bzw. angewandt wird. Durch die Verknüpfung des bundesweit geltenden ProstG – mit kommunal unterschiedlich ausgestalteten Vorgehensweisen in der Regulierung von Prostitution – und den nach wie vor bestehenden rechtlichen Unklarheiten entsteht ein Ermessensspielraum für Verwaltungsakteur/-innen. Die Wahrnehmung bzw. Ausgestaltung dieses Ermessensspielraums und die hieraus resultierenden Bedingungen für die Ausübung, die Organisation und die Nachfrage von Prostitution ist daher ein zentraler Faktor der deutschen Prostitutionspolitik. Hierbei ist zu beachten, dass die Wissensbestände, die Wahrnehmungs- und die Handlungsmuster der Verwaltungsakteur/-innen, die der Verwaltungspraxis zu Grunde liegen bzw. diese bedingen, sich individuell voneinander unterscheiden.

Interaktionstheoretische Erweiterung von Pierre Bourdieus Habituskonzept

An diesem Punkt setzt die vorliegende Forschungsarbeit von Claudia Vorheyer an. In ihrer qualitativen Untersuchung über den beruflichen Habitus von Verwaltungsakteur/-innen rekonstruiert sie die „Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsmuster sowie das Innovationspotential der Verwaltungsbeschäftigten“ (S. 9), die in ihrem beruflichen Arbeitsalltag mit dem Thema Prostitution und/oder Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung zu tun haben. Das zentrale Erkenntnisinteresse ihrer Arbeit liegt in der Beantwortung der Frage, wie die spezifischen Gesetze und Verordnungen, die dem Verwaltungshandeln zu Grunde liegen, durch die in den Behörden und Ämtern tätigen Mitarbeiter/-innen angewandt und interpretiert werden. Unter Zugrundelegung von Pierre Bourdieus Habituskonzept, das Vorheyer interaktionstheoretisch erweitert, werden sowohl die „historisch-gesellschaftlichen und sozial-biographischen Zusammenhänge des beruflichen und administrativen Handelns als auch die Integration verschiedener Aspekte, die für die Verwaltungspraxis im Bereich Prostitution und Menschenhandel relevant sein können, wie z. B. soziokulturelle Normen und Werte, geschlechtsspezifische Ordnungsmuster oder die sozialen Orientierungen und Motivationen des Verwaltungspersonals“ (S. 10) berücksichtigt. Dabei stehen „die Ausformung und Ausschöpfung der Wahrnehmungs- und Handlungsspielräume im speziellen Fokus der Untersuchung“ (ebd.).

Die wissenssoziologische und sozialkonstruktivistisch-interaktionistische Perspektive ihrer Arbeit lässt sich anhand des von ihr verwendeten theoretischen Modells des beruflichen Habitus (Bourdieu), das Vorheyer in drei Unterscheidungsdimensionen differenziert, nachvollziehen: Die erste Dimension bezieht sich auf die Gegenstandsdefinition, die die spezifischen Wahrnehmungs- und Deutungsmuster der Verwaltungsbeschäftigten fasst. Hier ging es vor allem darum, die „erfahrungsbasierten Wissensstrukturen“ herauszuarbeiten, die die Problembeschreibungen und Klassifizierungen enthalten, die im beruflichen Alltag vorgenommen werden (S. 198). Untersucht wurde, wie der Verwaltungsgegenstand Prostitution von den Verwaltungsakteur/-innen konstruiert, wahrgenommen und interpretiert wurde, welche Deutungsmuster und -strukturen verwendet wurden und welche Diskurse produziert bzw. an welchen partizipiert wurde. Bearbeitet wurden u. a. folgende Fragen: „Unter welchem Aspekt wird Prostitution wahrgenommen (z. B. moralisch, gesundheitlich, sozial, ordnungs- oder strafrechtlich)? Was wird problematisiert (z. B. sexuell übertragbare Krankheiten, Drogenabhängigkeit, Gewalt, öffentliche Ordnung, Zuhälterei und Menschenhandel)? Welche sozialen Gruppen werden zum Gegenstand der Problemdefinitionen (Prostituierte, Zuhälter, Prostitutionskunden, ethnische Gruppen, Nationalitäten etc.)? Wie werden die Subjekte kategorisiert (als Opfer und/oder Täter[/-]innen) [bzw.] stigmatisiert?“ (ebd.)

Auf der Gegenstandsdefinition bauen die zweite Dimension (Selbstdefinition) und dritte Dimension (Umweltdefinition) des Modells des beruflichen Habitus auf, die beide der Handlungsebene der Verwaltungsbeschäftigten zuzuordnen sind. Bei der Selbstdefinition ging es u. a. darum, herauszufinden, ob die jeweiligen Wahrnehmungs- und Deutungsmuster Eingang in die Verwaltungspraxis fanden, wie der jeweilige Handlungs- und Ermessensspielraum der Verwaltungsakteur/-innen individuell ausgestaltet wurde und „wie aus gleichen oder vergleichbaren rechtlichen und institutionellen Rahmenbedingungen unterschiedliche Verwaltungspraktiken und organisationale Arrangements hervorgehen“ konnten (S. 199). Gegenstandsdefinition und Selbstdefinition sind schließlich mit der Umweltdefinition verknüpft: Diese dritte Dimension des beruflichen Habitus bezieht sich auf die Beziehungen, die zwischen verschiedenen Verwaltungsakteur/-innen aufgebaut und aufrechterhalten werden und die auf den individuellen Deutungsmustern beruhen. Von Interesse waren dabei v. a. die vielfältigen innovativen, zum Teil transnationalen, Kooperationsformen und Netzwerkstrukturen zwischen den beteiligten Akteur/-innen, „wie z. B. eine vom Ordnungsamt ausgehende Zusammenarbeit mit sozialen Einrichtungen oder ein Arrangement zwischen staatlichen und zivilgesellschaftlichen Gesundheitsinstitutionen, das auf der Vereinbarung einer zweckorientierten Nichtanwendung bestehender Melde- und Behandlungsvorschriften beruht“ (ebd.).

Grundlage der empirischen Untersuchung bilden 45 Expert/-inneninterviews, von denen 25 in Deutschland, zehn in Polen und zehn in der Tschechischen Republik durchgeführt wurden. Die Mehrzahl der herangezogenen Interviews wurde im Rahmen des Forschungsprojekts „Die Verwaltung der Prostitution: Sachsen – Polen – Tschechische Republik“ am Institut für Politikwissenschaft der Universität Leipzig zwischen 2004 und 2006 erhoben, weitere Interviews führte Vorheyer, durch die Universität Magdeburg gefördert, selbst durch. Vorheyer konnte somit auf umfassendes empirisches Material zurückgreifen, das sie für ihre Promotionsarbeit heranziehen und auswerten konnte. Befragt wurden Verwaltungsakteur/-innen unterschiedlicher Provenienz (Polizeibehöden, Ordnungsämter, Gesundheitsämter) sowie Praktiker/-innen aus der Sozialen Arbeit (staatliche und nicht-staatliche Beratungsstellen und Streetwork-Projekte). Letztere wurden in die Untersuchung mit einbezogen – obwohl sie nicht der ‚Verwaltung‘ im eigentlichen Sinn zuzurechnen sind –, da sie öffentliche Aufgaben wahrnehmen und durch die regelmäßige Kooperation mit unterschiedlichen Verwaltungsbehörden an der Entwicklung von Prostitutions-Policies beteiligt sind.

Individualisierte Verwaltungspraxis im Bereich Prostitution

Die Ergebnisse der Untersuchung wurden von der Autorin in Form von Fallportraits und kontrastiven Vergleichen innerhalb und zwischen den Institutionen und Berufsgruppen vorgestellt (Kapitel 8). Es wird deutlich, dass die beruflichen Habitusformationen nicht nur institutionell, sondern auch individuell variieren, sodass sich mitunter Spannungen, Widersprüche und Konflikte zwischen den institutionellen Sichtweisen und Vorgaben und der individuellen Betrachtung des Verwaltungsgegenstands ergeben. Dies wird beispielsweise deutlich am Fall des „sozial sensibilisierten Ordnungsamtmitarbeiters, dessen alltägliche Arbeitsaufgabe in der Durchsetzung der Sperrbezirksverordnung bzw. der Verdrängung der Straßenprostitution besteht, der die Prostituierten aber aus einer sozialarbeiterischen Perspektive wahrnimmt und ihnen angesichts ihrer Drogenabhängigkeit vielmehr helfen will“ (S. 195 f.). Die Fallportraits führen eindrucksvoll vor Augen, wie sehr die Verwaltungspraxis und die Wahrnehmung und Ausgestaltung von Handlungs- und Ermessensspielräumen in der Regulierung von Prostitution vom beruflichen Habitus der handelnden Akteur/-innen, d. h. von ihren individuellen Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsmustern abhängt. Dies äußert sich beispielsweise in der Klientelbeziehung, dem Arbeitsansatz, den Problemlösungsstrategien sowie der Interaktion mit anderen Verwaltungsbehörden und sozialen Einrichtungen. Das Verwaltungsrecht kann infolgedessen sowohl „primär als dienstliche Anordnung und Pflicht oder […] als persönliches Anliegen und Bestreben realisiert werden und dementsprechend mit liberalen Modifizierungen oder verstärktem repressivem Engagement einhergehen“ (S. 268).

Die individualisierte Verwaltungspraxis im Bereich Prostitution und Menschenhandel erklärt die Autorin zum einen mit den Schwierigkeiten des Verwaltungsgegenstands, die sich auf die rechtliche und soziale Unbestimmtheit der Prostitution, die Heterogenität und Klandestinität der Prostitutionsszene, die Pluralität der Wahrnehmungs- und Deutungsmuster, die Hybridität des Verwaltungswissens sowie auf belastende Inhalte und Problematiken beziehen (vgl. S. 368 ff.). Darüber hinaus wird die Verwaltungsarbeit aber auch durch die spezifischen Herausforderungen der diversen Berufs- und Tätigkeitsbereiche im Verwaltungsfeld bestimmt sowie durch jene Schwierigkeiten geprägt, „die aus den funktional differenzierten Strukturen des Verwaltungssystems resultieren“ (S. 382) (vgl. S. 376 ff.).

Dabei ist festzustellen, dass mit gesetzlichen Veränderungen „nicht automatisch ein Wandel der beruflichen Habitusformationen des exekutiven Verwaltungspersonals einher[geht]“ (S. 398), da die Verwaltungsarbeit vor und nach den Reformierungen von denselben sozialen Akteur/-innen ausgeführt wird und es diesen zum Teil nicht gelingt, ihre eigenen Wahrnehmungs- und Bewertungsmuster vor dem Hintergrund politischer Veränderungen zu reflektieren und, wie im Fall Deutschlands, den rechtlichen Paradigmenwechsel und die damit einhergehenden Normalisierungs- und Liberalisierungstendenzen individuell und institutionell umzusetzen (vgl. S. 399).

Interessant sind auch Vorheyers Beobachtungen hinsichtlich der (akteursgesteuerten) Wandlungstendenzen von der modernen zur postmodernen Verwaltung und der hiermit verbundenen Zunahme transdisziplinärer und transnationaler Verständigungs- und Kooperationsformen. Diese stehen in Zusammenhang mit einer „Bedeutungsverschiebung von den institutionellen Regeln und Strukturen zur individualisierten Regulierung und Strukturierung“ (S. 417) und der Entwicklung von Government (hierachische Handlungs- und Regulierungsformen) zu Governance (kooperative Handlungs- und Regulierungsformen).

Abschließende Bewertung

Vorheyer liefert in ihrer Untersuchung wertvolle Erkenntnisse, die aufgrund ihrer Interdisziplinarität sowohl politikwissenschaftliche, verwaltungswissenschaftliche als auch soziologische Relevanz haben, an fachspezifische Diskussionen anknüpfen sowie Anregungen für weiterführende Forschung geben. Aus politikwissenschaftlicher Sicht erscheint mir vor allem die Einbettung in die Governanceforschung von Interesse sowie die Frage, wie sich die Partizipations- und Einflussmöglichkeiten der verschiedenen sozialen Akteur/-innen aus Politik, Verwaltung und Gesellschaft (bspw. NGOs) – hinsichtlich der Verwaltung, aber auch hinsichtlich (gesetzlicher) Regulierungen der Prostitution – weiterhin entwickeln werden.

Aufgrund der Gleichzeitigkeit von klandestiner Prostitutionsszene und gesellschaftlichem Tabu bzw. Unwillen, sich mit ersterer genauer auseinanderzusetzen (bspw. durch Schließen rechtlicher Lücken), ist m. E. zu vermuten, dass der Verwaltungspraxis und der Wahrnehmung und Ausgestaltung des Ermessensspielraums durch die Verwaltungsakteur/-innen weiterhin eine besondere Bedeutung zukommen wird. Vorheyers Beobachtungen hinsichtlich der vielfältigen Kooperationsformen und „Arrangements“ bspw. zur „zweckorientierten Nichtanwendung bestehender Melde- und Behandlungsvorschriften“ (S. 199) lassen zudem Fragen der demokratischen Kontrolle und Legitimität aufkommen.

Aus Vorheyers Arbeit wird die Relevanz interdisziplinärer wissenschaftlicher Forschung deutlich, da in ihr dargelegt wird, dass (inter)nationale Prostitutionspolitiken und die sie konstituierenden Faktoren nicht angemessen verstanden werden können, wenn nicht auch wissenssoziologische Betrachtungen mit einbezogen werden.

URN urn:nbn:de:0114-qn:960:4

Eva Buchholz, M.A.

Politikwissenschaftlerin in Berlin

E-Mail: eva.buchholz@web.de

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