Bihter Somersan:
Feminismus in der Türkei.
Die Geschichte und Analyse eines Widerstands gegen hegemoniale Männlichkeit.
Münster: Verlag Westfälisches Dampfboot 2011.
266 Seiten, ISBN 978-3-89691-877-2, € 29,90
Abstract: Die Politikwissenschaftlerin Bihter Somersan erörtert in ihrer Dissertation die Entwicklungsphasen der feministischen Bewegung in der Türkei seit den 1980er Jahren sowie deren aktuelle Organisationsstrukturen, Handlungsstrategien und Debatten. Dazu analysiert sie die feministische Literatur der Türkei und wertet die von ihr selbst in den letzten Jahren durchgeführten Expertinnen-Interviews aus. Die im Mai 2011 im Verlag Westfälisches Dampfboot veröffentlichte Monographie zeichnet sich insbesondere durch ihren hegemoniekritischen und feministischen Theorieansatz aus.
Bihter Somersan geht in ihrer Untersuchung der zentralen Frage nach, inwieweit die feministische Bewegung der Türkei in der Lage gewesen sei beziehungsweise gegenwärtig in der Lage ist, sich als eine gegenhegemoniale Bewegung und kritische Öffentlichkeit in der politischen Sphäre der Türkei zu formieren und dabei das Ziel zu verfolgen, die bestehenden Strukturen hegemonialer Männlichkeit zu transformieren (vgl. S. 13). Hierzu befragte die Autorin im Zeitraum von 2004 bis 2009 18 Expertinnen und Aktivistinnen, „die im frauenpolitischen Diskurs der Türkei eine bedeutende Rolle spielen“ (S. 16). Dazu zählten „autonome feministische Aktivistinnen, Gründerinnen der feministischen Bewegung und feministische Protagonistinnen, frauenpolitisch aktive Politikerinnen und Politikerinnen ohne eine spezifische Geschlechterperspektive“ (ebd.). Als empirische Quellen dienten der Autorin neben der Auswertung von feministischer Literatur und Interviews „Zeitungsartikel, Essays, Erfahrungsberichte, feministische Zeitschriften und eigene Erfahrungen“ (ebd.).
Theoretisch basiert die Studie auf den von Antonio Gramsci entwickelten Konzepten von Öffentlichkeit, Zivilgesellschaft und Staat, die die Autorin einleitend darstellt. Somersan diskutiert in einem zweiten Schritt die Anwendbarkeit dieser Konzepte für eine kritische politikwissenschaftliche Geschlechterforschung. Diese theoretischen Überlegungen werden im nächsten Schritt mit einer historischen und gesellschaftlichen Kontextualisierung verbunden. Somersan fasst dabei zunächst die Ergebnisse der wissenschaftlichen Debatten über die Zivilgesellschaft in der Türkei zusammen, um anschließend das Verhältnis von Staat und Zivilgesellschaft im Osmanischen Reich, während der kemalistischen Republik und nach dem Militärputsch von 1980 zu skizzieren.
Das dritte Kapitel der Arbeit ist der Geschichte der feministischen Bewegung in der Türkei gewidmet. Nach einer knappen Darstellung der Entstehungsbedingungen im Kontext der türkischen Militärdiktatur beschreibt Somersan die 1980er Jahre als Phase der „Mobilisierung“, das darauffolgende Jahrzehnt als Phase des „Projektfeminismus und [der] Spaltungen“ und den Zeitraum nach 2000 als Phase der „Zusammenarbeit und Solidarität“ (S. 80–99). Des Weiteren diskutiert Somersan die Identitäten, Gemeinsamkeiten und Differenzen der unterschiedlichen Gruppierungen der Frauenbewegungen (vgl. S. 100–123). Die Autorin vertritt dabei die These, dass weder von islamistischen Feministinnen in der Öffentlichkeit der Türkei noch von einer institutionalisierten Frauenbewegung innerhalb der islamistischen Bewegung gesprochen werden könne. Für Somersan besteht die Frauenbewegung in der Türkei deshalb aus zwei Gruppen: Die kemalistischen Frauen würden zwar die rechtliche und gesellschaftliche Gleichstellung aller Frauen einfordern, jedoch immer nur im Rahmen eines liberalen Gleichstellungsfeminismus. Im Gegensatz dazu würden sich die autonomen Feministinnen, die sich aus sozialistischen, radikalen und kurdischen Feministinnen zusammensetzen, für eine grundlegende Transformation der patriarchal-hegemonialen Gesellschaftsstrukturen in der Türkei einsetzen. Während die autonomen Feministinnen sich um eine Annäherung an religiös geprägte Frauengruppen bemühten, gebe es aufgrund biographischer Erfahrungen, die im Zusammenhang mit den Repressalien während der Militärdiktatur stehen, nur eine geringe Zusammenarbeit mit den kemalistischen Frauen. Für die Weiterentwicklung feministischer Perspektiven hält Somersan insbesondere auch „Bündnisse mit anderen gegenhegemonialen sozialen Gruppen wie Anti-Militaristen, die LGBTT-Bewegung[1] und die linke Bewegung“ (S. 243) für wichtig.
Im vierten Kapitel beschreibt Somersan mit Blick auf die geschlechterhierarchischen Gewaltverhältnisse in der Familie und im Privaten sowie auf die traditionellen Strukturen in Politik, Militär, Ökonomie und Medien die (Re-)Produktion von hegemonialen Männlichkeiten. In diesem Zusammenhang nennt Somersan auch Beispiele für den feministischen Widerstand gegen hegemonial-männliche Strukturen in Politik und Gesellschaft. Gerade die „wissenschaftliche, theoretische und politische Kritik und die feministische Dekonstruktion von gesellschaftlich tabuisierten oder ‚heilig gesprochenen‘ Institutionen wie dem Militär“ seien „gegenhegemoniale politische Ansätze, die zur Stärkung und Bereicherung einer gesellschaftlichen Opposition gegen hegemoniale Machtverhältnisse beitragen“ könnten (S. 185).
Auf der Grundlage der von der Autorin durchgeführten 18 Expertinnen-Interviews mit Protagonistinnen der feministischen Bewegung und Frauenpolitik sowie einer Analyse von Artikeln der feministischen Zeitschrift Amargi stellt Somersan im fünften Kapitel „politische Tagesordnungen, Standpunktverortungen und Praktiken“ der heutigen Frauenbewegung in der Türkei vor (S. 6). Die Interviewausschnitte zeigen anschaulich das Politik- und Selbstverständnis der Aktivistinnen und Theoretikerinnen im Kontext von Staat und Zivilgesellschaft und ihre Vorstellungen von demokratischer Partizipation und Mitbestimmung.
Innerfeministische Debatten über Hegemonien und Repräsentation innerhalb der Bewegung verweisen auf das Reflexionsvermögen der Feministinnen im Hinblick auf herrschaftliche Machtverhältnisse, die im Zuge von Internationalisierung, ‚NGOisierung‘ von Frauengruppen und ‚Projektfeminismus‘ entstanden sind.
Zusammenfassend stellt Somersan fest, dass sich der Kampf der Feministinnen gegen diejenigen gesellschaftlichen und politischen Probleme der Türkei richte, „die für die Benachteiligung von Frauen von zentraler Bedeutung sind wie Armut, Demokratiedefizit, die Verbreitung und Implementation von konservativen Politiken in den letzten zehn Jahren und (staatliche) Gewalt“ (S. 196). Für Somersan ist die feministische Bewegung „eine der emanzipatorischsten sozialen Bewegungen“ (S. 10) der Türkei. Sie trage seit den 1980er Jahren radikale und fundamentale Gesellschafts- und Demokratiekritik in die politische Gesellschaft der Türkei hinein.
Gleichwohl sieht Somersan Nachholbedarf in der theoretischen Fundierung der politischen Arbeit der feministischen Bewegung. Insbesondere hält sie es für notwendig, dass die autonomen Feministinnen die weit „verbreitete Auffassung vom Staat als einem einheitlichen Konstrukt und Feindbild“ überdenken, um sowohl theoretisch eine „adäquate Analyse der Widersprüche und Machtkonstellationen im Staat“ leisten als auch „geeignete Politiken zur Durchdringung dieser Machtbeziehungen“ entwickeln zu können (S. 235). Gleichzeitig sieht Somersan die Gefahr eines Verlusts des radikal-gesellschaftskritischen Inhalts feministischer Politik, falls durch eine zu kooperative Bündnispolitik mit dem Staat „im Zuge neoliberaler Umschichtungspolitiken feministische Politik dazu vereinnahmt und instrumentalisiert wird, staatliche Fürsorgepflichten zu übernehmen und neue markt- und wettbewerbsorientierte AkteurInnen zu schaffen“ (ebd).
Bihter Somersan gelingt es in ihrer Monographie, einen umfassenden Einblick in die Geschichte und die Debatten der feministischen Bewegung der Türkei – gerade für nicht-türkischsprachige Leser_innen – zu vermitteln. Die Autorin stellt wichtige Protagonistinnen und Organisationen der Frauenbewegungen vor und verweist auf empirische Studien und weiterführende Literatur. Der von ihr gewählte theoretische Rahmen stellt sich als ein geeignetes Analysewerkzeug heraus, um Lösungsmöglichkeiten für die innerfeministische Diskussion um ‚Institutionalisierung versus Autonomie‘ aufzuzeigen. Somersans wissenschaftliche Analyse soll insbesondere autonomen Feministinnen aufzeigen, „dass das feministisches Engagement in der Zivilgesellschaft "ein paradoxes Unterfangen mit und gegen den Staat" ist und dass nur durch Bündnisse mit spezifischen Staatsapparaten ein Potential entwickelt werden kann, mit dem sich staatliche Bürokratie und hegemoniale Männlichkeitsformen in staatlichen und gesellschaftlichen Strukturen transformieren“ ließen (S. 241 f.).
Da Somersans theoretische Überlegungen auch als Grundlage für eine Weiterentwicklung feministischer Handlungsstrategien in der Türkei dienen könnten, wäre eine Übersetzung des Buches ins Türkische wünschenswert.
Bemängelt werden muss das nachlässige Lektorat. So werden türkische Namen – insbesondere der Name der Autorin selbst (!) – zum Teil nicht korrekt geschrieben.
Leider verzichtet Somersan auf eine methodologisch abgesicherte Auswertungsstrategie der von ihr erhobenen empirischen Daten. Dadurch wirken insbesondere die Interviewpassagen in ihrer Studie teilweise eher illustrierend als aussagekräftig.
[1]: LGBTT steht für lesbisch, schwul, bisexuell, transsexuell und transident und bezieht sich in diesem Kontext auf die Homo-, Bisexuellen- und Trans*-Bewegung in der Türkei.
URN urn:nbn:de:0114-qn123099
Charlotte Binder
Universität Bremen
Doktorantin an der Universität Bremen
E-Mail: charlotte@gmx.net
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