Maja Figge, Konstanze Hanitzsch, Nadine Teuber (Hg.):
Scham und Schuld.
Geschlechter(sub)texte der Shoah.
Bielefeld: transcript Verlag 2010.
324 Seiten, ISBN 978-3-8376-1245-5, € 29,80
Abstract: Die Autor/-innen des interdisziplinären Sammelbandes bearbeiten die innovativen Frage nach dem Zusammenhang von Scham, Schuld und Geschlecht in der deutschen Erinnerungskultur, insbesondere nach der transgenerationellen vergeschlechtlichten Weitergabe von Scham und Schuld. Die Konzeptionierung dieser Begriffe bleibt jedoch sowohl in der Einleitung als auch in einigen Aufsätzen recht vage. Der Band leistet dennoch einen wichtigen Beitrag für die Repräsentationsgeschichte des Nationalsozialismus und bietet eine aufschlussreiche Auseinandersetzung mit der Bedeutung der Kategorie Geschlecht in der Aufarbeitung des Nationalsozialismus in Deutschland.
Scham und Schuld, so die zentrale These der Herausgeberinnen des gleichnamigen Sammelbandes, sind zentrale Narrationen über die Verbrechen der Shoah. Sie transportieren ein „vielfältiges Deutungsreservoir deutscher Schuld“ (S. 9). Diese beruhen zugleich, und dieser Fokus stellt das Innovative an dem Konzept des Bandes dar, auf einer geschlechtlichen heteronormativen Codierung, die zu Entlastungen, Tabuisierungen und Mystifizierungen der Shoah beitragen können. Damit schließt der interdisziplinäre Sammelband, der auf einer Tagung des DFG-Graduiertenkollegs „Geschlecht als Wissenskategorie“ der Humboldt-Universität zu Berlin basiert, an die wenigen Forschungsarbeiten an, die sich mit der Kategorie Geschlecht in der deutschen Erinnerungskultur und -politik auseinandersetzen. Dazu gehören beispielsweise der wegweisende Sammelband von Insa Eschebach, Sigrid Jacobeit und Silke Wenk (Gedächtnis und Geschlecht. Deutungsmuster in Darstellungen des nationalsozialistischen Genozids. Frankfurt/Main: Campus 2002), die Studie von Corinna Tomberger, die als eine von wenigen Konstruktionen von Männlichkeit in der Erinnerungskultur untersucht, (Das Gegendenkmal. Avantgardekunst, Geschichtspolitik und Geschlecht in der bundesdeutschen Erinnerungskultur. Bielefeld: transcript 2007) sowie verschiedene Arbeiten von Kathrin Hoffmann-Curtius.
Der Band leistet einen wichtigen Beitrag für die Repräsentationsgeschichte des Nationalsozialismus. Die einzelnen Aufsätze spannen einen weiten Bogen und beschäftigen sich mit verschiedenen Aspekten von Scham und Schuld, von den geschlechtlichen Codierungen juristischer Schuld von KZ-Aufseherinnen in Ravensbrück bis hin zur Abwehr dieser Gefühle über Konstruktionen von Sexualität. Auf verschiedenen Ebenen werden zum einen die explizite oder implizite Verhandlung von Scham und Schuld insbesondere im Hinblick einer „intergenerationellen Weitergabe […] im Land der Täter/-innen und zum anderen die Bedeutung dieser Emotionen in der erinnerungskulturellen und -politischen Auseinandersetzung mit den Verbrechen des Nationalsozialismus“ (S. 9) bearbeitet. So werden in fünf Kapiteln die „Intergenerationelle Weitergabe von Scham und Schuld“, das „Ende des Zweiten Weltkriegs in Privatheit und Öffentlichkeit“, „Weiblichkeit und Nationalsozialistische Täterinnenschaft“, „Geschlechtercodes der Religionen“ sowie der Aspekt von Sexualität und Pornographie im Kontext des Nationalsozialismus thematisiert.
Die Hinführung der Herausgeberinnen zu den Begrifflichkeiten Scham und Schuld und insbesondere zur Frage nach ihrer Vergeschlechtlichung bleibt recht vage und wenig ausgearbeitet, mehr Beispiele hätten zur Verdeutlichung des Anliegens des Bandes beitragen können. Bei manchen der vierzehn Aufsätze fehlt eine Konzeptionierung von Scham und Schuld gänzlich. Die Autor/-innen setzen sich mit sehr verschiedenen Aspekten und Ansätzen von Scham und Schuld auseinander, sodass der Leserin manchmal die Klammer fehlt.
Besonders hilfreich und interessant erweist sich für eine inhaltliche und begriffliche Annäherung der Aufsatz von Katharina Obens. Darin setzt sie sich mit sozialwissenschaftlichen Studien zu Scham- und Schuldgefühlen der Enkelgeneration von Täter/-innen auseinander. Sie unterzieht die Studien zu den innerfamiliären Folgen der nationalsozialistischen Verstrickung und Täterschaft einer kritischen Relektüre und problematisiert das immer wieder postulierte angebliche (unbewusste) Schuldgefühl der nachfolgenden Generationen. Obens arbeitet eine fehlende Differenzierung zwischen Scham und Schuld in den analysierten Forschungsarbeiten heraus und damit eine Überbetonung eines vermeintlichen Schuldgefühls. Sie geht dagegen von einem Schamgefühl auf Seiten der Enkelgeneration aus, das durch die einsetzende Schamabwehr eine tiefere Auseinandersetzung verhindert. „Die Umdeklaration von Scham in Schuldgefühle kann das Ziel haben, die als passiv erlebte Scham abzuwehren.“ (S. 42) Für die Auseinandersetzung mit der Geschichte macht das einen großen Unterschied, denn „Schuldgefühle fokussieren die Verletzung des Anderen, während Schamgefühle auf Verletzung des Selbst hinweisen.“ (S. 43) Während Schuldgefühle eine aktivierende Wirkung in dem Sinne haben, dass eine Wiedergutmachung angestrebt wird, und mit einem Erschrecken über das eigene Verhalten einhergehen, wird Scham als lähmend beschrieben. Scham verursacht keine Empathie mit den Opfern, sondern ist ein selbstbezogenes Gefühl. Die Impulse der Autorin erweisen sich nicht nur als relevant für die Auseinandersetzung mit der innerfamiliären Weitergabe der Geschichte, sondern darüber hinaus auch mit der deutschen Erinnerungskultur und -politik.
In ihrem Beitrag zu innerfamiliären Vater- und Mutterbildern verdeutlicht Margit Reiter, dass die Tradierung der Geschichte des NS geschlechtsspezifisch verläuft. Täterschaft wird so lediglich anhand konkreter Taten des Vaters im Kontext von NS-Täterorganisationen verhandelt. Gesellschaftliche Konstruktionen von Weiblichkeit tragen zu einem entpolitisierten Bild der Mutter bei, die im Kontext der Verstrickung in den NS höchstens als Mitwisserin vermutet wird, häufig aber auch als unschuldiges Opfer imaginiert und so entlastet wird. Zudem zeigt sich in den von Reiter geführten Interviews, dass Täter/-innenschaft von den Nachkommen sehr eng gefasst wird und damit viele Formen, die diese haben kann, ausgeblendet werden. Die aufgezeigten Vater- und Mutterbilder korrespondieren dabei mit den öffentlichen gesellschaftlichen Bildern von Täter/-innenschaft.
Auch Kathrin Hoffmann-Curtius trägt zur weiteren theoretischen Annäherung an die Begriffe Scham und Schuld bei. Sie nimmt diesbezüglich deutsche Denkmalpolitiken nach 1945 in den Blick und analysiert, welche Subtexte der Shoah darin zu erkennen sind. Diese betrachtet sie zugleich in ihrem Verhältnis zur jüdischen Erinnerungspolitik. Insbesondere ihre Auseinandersetzung mit der Darstellung männlicher Scham bringt neue Erkenntnisse für die Bedeutung von Männlichkeitskonstruktionen in der Repräsentation des Nationalsozialismus, die bislang überwiegend mit dem Blick auf Weiblichkeitsbilder untersucht wurden. Die Denkmäler drücken, so die Lesart von Hoffmann-Curtius, weniger männliche Scham über die nationalsozialistischen Verbrechen aus als vielmehr über die Kriegsniederlage. „Der Krieg, die Niederlage und die Probleme des zerstörten Deutschland fließen darin so ineinander, dass die Schuld ausgesprochen und zugleich zurückgenommen wird.“ (S. 129) Auch im jüdischen Gedenken, so z. B. beim Denkmal für den Aufstand im jüdischen Ghetto, finden sich traditionelle Männlichkeitskonstruktionen, wobei der männlich konnotierte Kampf gegen den Nationalsozialismus dem weiblich konnotierten Erdulden der Opfer gegenübergestellt wird.
Björn Krondorfer setzt sich mit Männlichkeit und Selbstmitleid in dem apologetischen Selbstzeugnis Credo von Oswald Pohl auseinander, der von 1942 bis 1945 Chef des Wirtschafts- und Verwaltungshauptamts war. Darin schreibt dieser über seinen neu gefundenen Glauben und seine Schuld, die er jedoch in Anführungszeichen setzt und insofern abwehrt. Pohls religiöse Rhetorik dient dabei der Auseinandersetzung mit Schuldvorwürfen und der Narration einer Läuterungsgeschichte. Dadurch wird eine „Remaskulinisierung der angeschlagenen Männlichkeit“ möglich (S. 197). Die Männlichkeitskonstruktionen bleiben bei Krondorfer recht deskriptiv und hätten weiter ausgearbeitet werden können. Zudem schreibt er den NS-Tätern Hans Frank und Robert Ley, die er als weitere Beispiele veröffentlichter Selbstzeugnisse nennt, dieselbe kühl-sachliche Männlichkeit zu, die erst mit der religiösen Rhetorik ins Bröckeln gerate – hier hätte es einer differenzierteren Lesart der drei Täter bedurft. Der Autor nimmt in dem für die Täter/-innenforschung wichtigen Beitrag seine Quelle allerdings zu ernst, indem er das apologetische Werk immer wieder an dem darin formulierten Anspruch misst.
Auch Tim Lörke beschäftigt sich mit männlicher Scham und Schuld anhand des Romans Engel sind schwarz und weiß von Ulla Berkéwicz. Zunächst rekonstruiert und kritisiert der Autor anregend und überzeugend die vielschichtige Rezeptionsgeschichte des Romans. Der zweite Teil des Artikels, in dem der Autor die Geschlechterkonstruktionen im Roman analysiert, fällt jedoch qualitativ vom ersten ab. Lörke hebt zwar die stark polarisierten Geschlechterkonstruktionen der Romanautorin hervor, bleibt jedoch in seiner Auseinandersetzung weitestgehend deskriptiv. So fasst der Autor zusammen: „Der Nationalsozialismus wird von Berkéwicz als brutaler Angriff auf die Weiblichkeit inszeniert und die Shoah als katastrophaler Höhepunkt einer männlich-nihilistischen Terrorherrschaft.“ (S. 262) Welche Verdrängungsmechanismen von Schuld wirkmächtig werden, wenn die Romanautorin damit ein längst überwunden geglaubtes weibliches Opfernarrativ reproduziert, das im Kontext einer Ausblendung von weiblicher Täterschaft und Partizipation am Nationalsozialismus steht, hätte Lörke stärker herausarbeiten und kritisieren können. Zudem reproduziert auch der Autor stereotype Geschlechterkonstruktionen, indem er Berkéwicz’ Dualismen wenig zerlegt und auflöst. Es mutet seltsam an, dass die Romanfiguren in der Analyse Lörkes ihre „Gender-Identitäten“ (S. 265) sogar wechseln, wenn sie sich entgegen ihrer „Disposition“ verhalten. Obwohl der Autor von dynamischen Genderidentitäten schreibt (so in einer Zwischenüberschrift), werden sie in seiner Analyse statisch und polar, wenn z. B. eine „weibliche Disposition“ (S.265) durchbricht.
Sebastian Winter analysiert die Scham- und Schuldabwehr in der Erinnerung an den Nationalsozialismus anhand von sexualisierten und ponographischen Bildern und greift dabei die Debatte um die sexuelle Moral im Nationalsozialismus auf. Diese wird seit Jahren in der Frauen- und Geschlechterforschung geführt, so z. B. in Dagmar Herzogs Studie (Die Politisierung der Lust. Sexualität in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts. München: Siedler 2005) oder in Elisabeth Heinemans Aufsätzen (Sexuality and Nazism: The Doubly Unspeakable und Sexuality. In: Dagmar Herzog (Hg.): Hubris and Hypocrisy, Incitement and Disavowal: Sexuality and German Fascism. New York/Oxford: Berghahn 2002, S. 22–66; Coming to Terms with the Nazi Past. In: Central European History. Volume 38, No. 1, 2005, Seite 41–74). Winter interveniert in die fruchtlose Gegenüberstellung einer sexuell bejahenden oder repressiven Sexualpolitik im Nationalsozialismus und betont, es mache keinen Sinn, von der Sexualität im NS zu sprechen. Vielmehr müsse im Anschluss an die Psychoanalytikerin Sophinette Becker gefragt werden: „Was für eine Sexualität wurde im Nationalsozialismus propagiert und gefördert, welche Sexualität wurde diffamiert und verfolgt?“ (S. 287)
Auch Birgit Dahlke beschäftigt sich mit Konstruktionen von nationalsozialistischer Sexualität im Roman Die Wohlgesinnten von Jonathan Littell und geht der Auseinandersetzung des Autors mit der Schuld seines Protagonisten nach. Sie arbeitet überzeugend den Zusammenhang zwischen der pornographischen Erzählstrategie und dem Täterwissen heraus, das der Roman bearbeitet. Litell „konstruiert ein Narrativ, das nicht nicht-pornographisch zu lesen ist und die Lesenden ununterbrochen auf das Problematische in ihrer Rolle in diesem Autor-Leser-Pakt aufmerksam macht.“ (S. 310)
Trotz der formulierten Kritik ist der Sammelband sehr lesenswert und stellt einen beachtenswerten Beitrag zur Analyse der Bedeutung der Kategorie Geschlecht im Kontext der Verbrechen der Shoah dar. Indem die Auseinandersetzung mit dem Zusammenhang von Geschlecht, Scham und Schuld in Bezug auf nationalsozialistische Täter/-innenschaft aus unterschiedlichen interdisziplinären Perspektiven stattfindet, werden bisherige Ansätze des Erinnerungsdiskurses auf ergiebige Weise weitergeführt und sind vielfältige Anschlüsse möglich.
URN urn:nbn:de:0114-qn123055
Dr. Anette Dietrich
Humboldt Universität zu Berlin
Zentrum für transdisziplinäre Geschlechterstudien
E-Mail: anette.dietrich@staff.hu-berlin.de
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