Yvanka B. Raynova:
Feministische Philosophie in europäischem Kontext.
Gender-Debatten zwischen „Ost“ und „West“.
Wien u.a.: Böhlau Verlag 2010.
273 Seiten, ISBN 978-3-205-78498-2, € 39,00
Abstract: Die Philosophin Yvanka Raynova hat in diesem Buch die Ergebnisse von vier Studien sowie die Transkripte von neun Interviews zusammengestellt. In allen geht es um feministische Philosophie im Europa nach der ‚Wende‘ von 1989. Die Autorin stellt bisherige Forschungen und Konzeptionen dar und verknüpft sie mit sozialen Hintergründen und Fragen der Kommunikation zwischen ‚Westfeministinnen‘ und ‚osteuropäischen Frauenforscherinnen‘. Es werden wichtige Forschungsfragen gestellt und bemerkenswerte Analysen gewagt, die manchmal jedoch detaillierter und aktualisierter zu wünschen wären.
Das Buch der Philosophin Yvanka Raynova ist in zwei Teile gegliedert: Während im zweiten Abschnitt neun Interviews mit feministischen Theoretikerinnen aus mittel- und osteuropäischen Ländern dokumentiert sind, geht die Autorin im ersten Teil in separaten Kapiteln vier Forschungsaspekten nach: Sie fragt, erstens, ob die feministische Philosophie ein „amerikanisches“ oder ein „europäisches“ Produkt ist. Zweitens legt sie die Geschichte und die Entwicklungen der feministischen Philosophie in Osteuropa dar, drittens stellt sie die Frage, ob es in Osteuropa eine Frauenbewegung gibt und ob eine feministische Theorie ohne eine solche entwickelt wird; und schließlich analysiert sie Debatten zwischen „Westfeministinnen“ und „osteuropäischen Frauenforscherinnen“ mit einer Methode des Neurolinguistischen Programmierens (NLP).
Der Struktur des Buches folgend, werde ich die einzelnen Kapitel getrennt besprechen, da in ihnen unterschiedliche Studien dargestellt werden. Zunächst arbeitet Raynova die Geschichte und die wichtigsten Definitionen von feministischer Philosophie in den USA und Westeuropa heraus. In dieser historischen Rekonstruktion der ersten Definitionen und Konzeptionen des Begriffes geht es vor allem darum, was feministische Philosophie ist und sein soll bzw. wie die Verschränkungen von Philosophie und Feminismus gedacht werden können. Die Frage der Überschrift „‚amerikanisches‘ oder ‚europäisches‘ Produkt?“ wird nur implizit beantwortet: Konzepte aus beiden Erdteilen haben wesentliche Anteile an dieser Thematik. Leider bleibt die geweckte Hoffnung, Bedeutungen und Auswirkungen geographischer Verortungen in diesen Thesen und Rezeptionen zu erfahren, unerfüllt.
Im zweiten Kapitel werden Geschichte und Entwicklungen der feministischen Philosophie und der philosophischen Genderforschung in Osteuropa untersucht. Hier versucht Raynova „ein ‚kartographisches‘ Bild der philosophischen Genderforschung in Osteuropa zu eröffnen“ (S. 42). Dieser Beitrag war für mich der interessanteste und bereicherndste: Die Autorin stellt hier die Werke und Aussagen prominenter Philosophinnen vor und nach der ‚Wende‘ gegenüber. Gerade am Beispiel einiger russischer Autorinnen arbeitet Raynova heraus, dass es sich bei Aussagen über die fehlende Existenz von Arbeiten zur feministischen Philosophie vor 1989 auch um ein strategisches Verschweigen von eigenen vormals ablehnenden Positionen feministischen Ideen gegenüber handelte. Sie rekonstruiert hier interessante Positionswechsel, Widersprüche und damit implizit den Einfluss von politischen Diskursen und Regimen auf wissenschaftliche Arbeiten.
In einer Fußnote ist zu lesen, dass dieser Text einer Studie aus den Jahren 2000/2001 entstammt, er wurde sogar 2003 bereits publiziert (in Pechriggl/Bidwell-Steiner 2003). Leider erfolgte keine Aktualisierung, so dass wir nicht erfahren, welche Arbeiten und Ansätze es in der feministischen Philosophie in Osteuropa in den letzten zehn Jahren gab. (Die Kapitel 3 und 4 des ersten Teils beziehen sich zwar auf neuere Literatur, gehen aber auf diese Fragestellung nicht ein.) Angesichts der breiter gewordenen Institutionalisierung von Gender Studies (z. B. Errichtung von Zentren, Studiengängen oder Professuren) sowie der Zunahme an Abschlussarbeiten aus diesem Themenbereich in den letzten zehn Jahren ist zu vermuten, dass auch in der feministischen Philosophie weitere interessante Werke entstanden sind. Diese Arbeit für die gesamte Region zu leisten, ist vermutlich nur kursorisch möglich, doch es ist schade, dass hier weder eine Einschätzung noch ein Ausblick versucht wurde.
Raynova stellt im dritten Kapitel die, wie sie selbst schreibt, nicht unumstrittene These auf, dass es „zurzeit keine Frauenbewegungen in den postkommunistischen Ländern Europas gibt“ (S. 93). Sie nennt dann Ex-Jugoslawien und Polen als Ausnahmen: In diesen Ländern habe es durch den Krieg und kriegsbedingte Gewalt an Frauen (Ex-YU) bzw. das eingeführte Abtreibungsverbot (PL) Notwendigkeiten zur Vereinigung von Frauen und zum Engagement gegeben.
Die Autorin unterscheidet dabei zwischen einer „feministischen Bewegung“, die „oft nur eine Strömung von Ideen, Theorien, und Strategien darstellt“ (S. 93), und einer Frauenbewegung, die sie – im Vergleich zu anderer Literatur zu diesem Thema (vgl. Vittorelli 2007 oder Gehmacher/Vittorelli 2009) – relativ eng definiert. Es müssten Unterdrückung und Diskriminierung von Frauen gegeben sein, sodass diese die Notwendigkeit verspürten, sich zusammenzuschließen und aktiv zu werden. Weiters müsse eine Ideenplattform und eine konkrete Handlungsstrategie für eine Veränderung sowie eine Interessensgemeinschaft (z. B. Verband, Verein) sowie führende Kräfte vorhanden sein, die in der Lage seien, die Frauen in einer Massenbewegung zu organisieren und zu koordinieren sowie für Kontinuität zu sorgen. Schließlich müsse eine Frauenmasse bereit sein, für die Veränderung der eigenen Situation zu kämpfen (vgl. S. 95). Raynova definiert nicht genauer, was eine „Ideenplattform“ oder eine „Handlungsstrategie“ ausmacht. Irritierend ist auch, warum diese und die „Interessensgemeinschaft“ in der Einzahl genannt sind. Die meisten Frauenbewegungen verfüg(t)en ja über mehrere Vereinigungen und divergierende Handlungsstrategien. Leider bringt die Autorin auch kaum historische (oder gegenwärtige) Beispiele für ihre mehrfach genannte These, dass Frauen sich nur dann zu einer Bewegung organisieren, wenn „Not oder Leid so groß sind, dass sie sich gezwungen sehen, zu handeln und sich selbst zu helfen“ (S. 143). Aufschlussreich wäre es, die Geschlechterbilder und die Vorstellungen von geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung hinter den genannten Ereignissen anzuschauen: Wurde die Luftverschmutzung in Russe, die die Autorin als einen der Gründe für einen funktionierenden Zusammenschluss von Frauen in Bulgarien nennt (S. 143), deshalb als „dringendere Not“ von den betroffenen Frauen empfunden, weil die Krankheiten von Kindern eher als „Frauenanliegen“ gesehen wurden als beispielsweise Arbeitslosigkeit oder ökonomische Not, von denen auch Männer betroffen waren?
In Kapitel 4 analysiert Raynova Begegnungen zwischen „Westfeministinnen“ und „osteuropäischen Frauenforscherinnen“ mittels des „Drama-Dreiecks“ (in Ausarbeitung von Stephan Karpman und Eric Berne) und einer Strategie zur Auflösung eines solchen Dramas nach Roman Braun et al. (2005). Anhand eines Schemas von Täter (bzw. Macher), Opfer (bzw. Muse) und Retter (bzw. Mentor) analysiert sie den „feministischen Ost-West-Konflikt“ (S. 154) oder genauer: zwei Texte von Claire Wallace und Hana Havelková, die beide in der Nummer 9 der Zeitschrift Transit im Jahr 1995 erschienen sind. Anschließend fasst die Autorin Gemeinsamkeiten und Differenzen in diesen Darstellungen zusammen und zeigt Fehler, die von Vertreterinnen beider Seiten gemacht wurden. Mit Hilfe der „6-er Strategie“ von Roman Braun versucht sie aufzuzeigen, wie das Drama hätte gelöst werden können. Diese Schritte sind, kurz gefasst, folgende: Das Drama muss als solches erkannt, die aktuellen Rollen der jeweils anderen erraten und benannt werden, die Wahrnehmungen, Werte und Emotionen der anderen sowie die eigenen sollen realisiert werden. Danach kann das Ersinnen gemeinsamer Ziele und das Schaffen erster gemeinsamer Ergebnisse erfolgen. Raynova analysiert anhand der Aussagen von Wallace und Havelková, dass die „Westfeministinnen“ sich selbst als Retterinnen sahen, jedoch als Täterinnen wahrgenommen wurden, d. h. sowohl Retterinnen als auch Täterinnen waren. Die „Ostfrauen“ wiesen ihrer Ansicht nach die ihnen zugewiesene Opferrolle zurück, wollten sich selbst aus der Opferrolle retten und gaben den Westfeministinnen zu verstehen, dass sie selbst noch zu lernen hätten, also selbst Opfer seien. Dadurch sei es schließlich zu einem Zusammenstoß zwischen „Retter und Selbstretter, zwischen Ankläger (Täter) und Gegenkläger (Täter) und schlussendlich zum Abbruch des Kontakts“ gekommen (S. 166). Auch wenn die aus dem NLP stammende Methodik zunächst überrascht, scheint diese Analyse einige der aufgetretenen und in der Literatur genannten Konflikte sowie Emotionen und Frustrationen, die in den Texten spürbar sind, gut zu erklären.
Auffällig bei dieser Analyse ist, dass Raynova im Text von Claire Wallace nicht nur die vordergründigen Aussagen, sondern auch ihre Rhetorik analysiert, bei Hana Havelková aber auf der inhaltlichen Ebene bleibt. Zu fragen wäre meines Erachtens aber, wann welche rhetorischen Strategien von beiden Autorinnen verwendet werden. Der Abbruch der Kontakte, den Havelková beschreibt („Der Vollständigkeit halber füge ich hinzu, dass keine gemeinsamen Sitzungen mehr stattfinden: Sie haben die Ihren und wir haben die unseren“ Havelková 1995, S. 147, hier: S. 162) und der Raynova zu dem Schluss führt, dass diese Verständigung in Prag gescheitert sei („Was aus dieser dramatischen Kommunikation, die zum Schluss als unproduktiv abgebrochen wurde zurückbleibt, ist wie in den meisten Drama-Situationen schlussendlich nur Ärger, Wut, Enttäuschung und Ohnmacht.“ S. 164), sieht bei näherer Betrachtung nicht ganz so aus: Im Zuge der Recherchen für meine Dissertation habe ich 2002 einige beteiligte Personen an diesen Diskussionen, die in den 1990er Jahren im Gender Studies Centrum in Prag stattfanden, befragt, und es stellte sich heraus, dass alle daran Beteiligten, mit denen ich sprach, diese Trennung als konsensualen Beschluss erlebt hatten, die nächsten Themen bzw. Texte in der jeweiligen Muttersprache zu diskutieren, um danach wieder gemeinsame Treffen abzuhalten. Die meisten stimmten sogar darin überein, dass die gemeinsamen Diskussionen weit interessanter waren als die ‚getrennten‘. Der Grund, warum Havelková dies hier wie einen Gesprächsabbruch darstellt bzw. warum Raynova diese Zeilen so interpretiert, mag daran liegen, dass es zu dieser Zeit immer wieder gegenseitige Enttäuschungen, Vorwürfe und Missverständnisse gab. Diese mit dem von Raynova vorgestellten Schema zu bearbeiten, ist ein ungewöhnlicher, aber nicht uninteressanter Versuch, einen Konflikt unter feministischen Forscherinnen zu analysieren. Doch gerade das hier vorgestellte Beispiel kam den von Raynova genannten Lösungsstrategien (S. 172 f.) real weit näher, als es hier den Anschein hat. Ich möchte damit nicht anzweifeln, dass es – sehr wohl auch in Prag und zu dieser Zeit – zu emotionalen Konflikten kam oder dass das hier vorgestellte „Retter-Täter“-Schema beachtenswerte Aspekte der Kontroversen beleuchtet. Doch ich möchte dafür plädieren, in der Analyse vorsichtiger zu sein und genauer nachzuschauen: Welche Argumente, Rhetoriken und Darstellungen werden von wem warum verwendet? Was wird damit erreicht? Vorwürfe gegenüber „Westfeministinnen“ in einer renommierten „westlichen“ Zeitschrift zu publizieren, kann, wenn wir dem von Raynova vorgeschlagenen Schema folgen, beispielsweise als explizit gesetzter Rollenwechsel von der „Opfer“- zur „Täter“-Position gelesen werden, ohne dass dies hier so analysiert wird.
Insgesamt schließe ich mich Raynovas Ansicht an, dass es eine gegenseitige Akzeptanz und Wertschätzung bzw. einen Dialog auf gleicher Augenhöhe bzw. „Debatten auf der Ebene eines Erwachsenen-Ich-Diskurses zweier ebenbürtiger Kommunikationspartner“ (S. 174) benötigt, um sich sinnvoll austauschen und voneinander lernen zu können. Ich möchte sogar weitergehen und sagen, dass dies nicht nur für eine funktionierende Kommunikation nötig ist, sondern auch für eine Weiterentwicklung der feministischen Theorie, die es sich, meiner Ansicht nach, weder leisten kann noch soll, auf die Erfahrungen und Erkenntnisse von Frauen, die in realsozialistischen Systemen gelebt haben, zu verzichten.
Im zweiten Teil des Buches werden Interviews mit Herta Nag-Docekal, Hedwig Meyer-Wilmes, Rada Iveković, Hana Havelková, Zuzana Kiczková, Eva D. Bahovec, Maria Joó, Božena Chołuj und Mihaela Miroiu wiedergegeben. Es fällt auf, dass die beiden Interviews mit den Theoretikerinnen aus Wien und Nijmegen länger sind und konzeptuellere Fragen beinhalten, während den Akademikerinnen aus dem früheren Jugoslawien, aus Tschechien, der Slowakei, Slowenien, Ungarn, Polen und Rumänien, die im Zuge eines Projekts interviewt wurden, vor allem Fragen zu Wissenschaftsstrukturen und -organisation gestellt wurden. Diese Interviews fielen dementsprechend kürzer aus. Leider wirkt sich bei diesen besonders aus, dass die Interviews schon zwischen 1998 und 2001 geführt worden sind: Die Antworten auf Fragen nach strukturellen und institutionellen Gegebenheiten, aber auch die nach wesentlichen Werken, sind bereits veraltet. So interessant und wichtig es ist, zentrale Protagonistinnen feministischer Philosophie aus post-sozialistischen Ländern Europas vorgestellt zu bekommen, so bereichernd wäre es gewesen, dem eine aktualisierte Sicht gegenüberzustellen.
Im vorliegenden Band werden feministische Konzepte aus den USA und aus Westeuropa mit solchen aus post-sozialistischen Ländern Europas kontrastiert. Dabei werden auch politische und zwischenmenschliche Dimensionen feministischer Diskussionen zwischen ‚Ost‘ und ‚West‘ beleuchtet. Es werden wichtige Forschungsfragen gestellt und interessante Analysen gewagt. Allerdings wäre eine Aktualisierung einiger Kapitel und mancherorts eine detailliertere Annäherung wünschenswert gewesen.
In vielen post-sozialistischen Ländern hat sich in den letzten zehn Jahren gerade in Bezug auf die Institutionalisierung von Frauen- und Geschlechterforschung viel getan, eine jüngere Generation von Akademiker/-innen, die nun bereits vor Ort mit feministischen Fragestellungen und Konzepten vertraut geworden ist, ließ neue akademische Arbeiten entstehen und gründete (aktivistische wie theoretische) Medien und Gruppierungen. Diese Entwicklungen in Bezug auf neuere Ansätze in der feministischen Philosophie hin zu untersuchen, könnte zu einer substantiellen Weiterentwicklung des Beitrages „Eastern Europe“ von Daša Duhaček (in Jaggar/Young 1998) führen, der hier als erster und bislang einziger Beitrag, in dem ein Überblick über feministische Philosophie in Osteuropa gegeben wird, prominent zitiert wird (S. 37 f.).
Braun, Roman/Gawlas, Helmut/Maywald, Fritz (2005): Führen ohne Drama. Die 8 größten Führungsirrtümer gelöst durch Trinergy-Strategien. Wien: Linde Verlag
Duhaček, Daša (1998): Eastern Europe. In: Jaggar, Alison M./Young, Iris M. (Eds.): A Companion to Feminist Philosophy. Malden and Oxford: Blackwell, S. 128–136
Havelková, Hana (1995): Real existierender Feminismus. In: Transit. Europäische Revue, Heft 9, S. 146–158
Raynova, Yvanka B./Moser Susanne (2003): Theorie- und Rezeptionsflüsse der Gender Studies in Osteuropa im Bereich Philosophie. In: Pechriggl, Alice/Bidwell-Steiner, Marlen, Hginnen: Brüche. Geschlecht. Gesellschaft. Gender Studies zwischen Ost und West. Materialien zur Förderung von Frauen in der Wissenschaft. Band 16, Wien: Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur, S. 17–86
Vittorelli, Natascha (2007): Frauenbewegung um 1900. Über Triest nach Zagreb. Wien: Löcker Verlag
Gehmacher, Johanna/Vittorelli, Natascha (Hg.) (2009): Wie Frauenbewegung geschrieben wird. Historiographie, Dokumentation, Stellungnahmen, Bibliographien. Wien: Löcker Verlag
URN urn:nbn:de:0114-qn:976:2
Dr. Veronika Wöhrer
Universität Freiburg
Wissenschaftliche Mitarbeiterin (Post Doc) am Institut für Soziologie der Universität Freiburg; Lektorin an der Universität Wien
E-Mail: veronika.woehrer@univie.ac.at
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