Wie politisch ist gegenwärtig das Private? Plädoyer für die (Diskurs-)Analyse der gesellschaftlichen Genese von Geschlecht

Rezension von Heike Kahlert

Karin Schwiter:

Lebensentwürfe.

Junge Erwachsene im Spannungsfeld zwischen Individualität und Geschlechternormen.

Frankfurt am Main u.a.: Campus Verlag 2011.

270 Seiten, ISBN 978-3-593-39428-2, € 34,90

Abstract: Karin Schwiter untersucht in der vorliegenden Studie, wie junge Erwachsene über ihre Zukunftspläne sprechen und welche Vorstellungen bezüglich ihrer Zukunft sie dabei entwerfen. Die Untersuchung zeichnet sich gegenüber älteren Forschungen zu diesem Thema unter anderem aus durch einen Geschlechtervergleich, die raumzeitliche Fokussierung auf die Deutschschweiz sowie ein diskursanalytisches Vorgehen in Anlehnung an Foucault. Das Ergebnis ist ein anregendes Buch, in dem die Autorin auf der Basis der Erzählungen von 24 jungen Frauen und Männern gesellschaftstheoretische Deutungen und Ausblicke entwickelt. Diese belegen, wie sich neoliberale Ideen von Individualität und fortbestehende Geschlechternormen miteinander so verschränken, dass Thematisierungen geschlechtlicher Ungleichheit kaum mehr möglich scheinen.

Im Fokus: Lebensentwürfe junger Erwachsener

In der vorliegenden Studie, einer Dissertation an der Universität Basel, verfolgt Karin Schwiter drei Forschungsanliegen. Erstens geht es ihr um die konkreten Inhalte der Lebensentwürfe der von ihr mittels problemzentrierter Interviews befragten 24 jungen Erwachsenen, die alle aus der Deutschschweiz kommen und zum Interviewzeitpunkt zwischen 24 und 26 Jahre alt und kinderlos waren. Sie möchte wissen, welche Vorstellungen die Befragten von der zukünftigen Berufstätigkeit und Karriere, von Elternschaft und familialer Arbeitsteilung haben.

Zweitens interessiert sie die Konzeptualisierung von Lebensplanung in den Erzählungen der jungen Erwachsenen: Welches Verständnis von Lebensplanung zeigt sich? Welche Zukunftspläne entwerfen sie? Inwiefern bilden sich darin Vorstellungen von Individualität und Wahlfreiheit ab? Inwieweit sehen sich die Befragten als selbst verantwortlich für ihre Biographieentwürfe an?

Drittens fragt Schwiter nach den Geschlechtervorstellungen: Welche Konzeptualisierungen von Geschlecht sind in den Lebensentwürfen der jungen Erwachsenen enthalten, und welche Implikationen haben diese im Hinblick auf Stabilität und Wandel der Geschlechterverhältnisse? Auf welche vergeschlechtlichten Normen referieren die Befragten?

Theoretischer Rahmen und Forschungsmethodologie

Quer zu diesen Fragen besteht die Studie aus drei Teilen und insgesamt zehn Kapiteln, einschließlich einer Einleitung. Zunächst legt Schwiter den Forschungsstand dar. Sie verortet ihre Studie zwischen der quantitativ orientierten Lebenslaufforschung und der qualitativ ausgerichteten Biographieforschung und zeigt überzeugend, wie der von ihr gewählte diskursanalytische Blickwinkel die damit traditionell verbundene Trennung von Makro- und Mikroperspektive zu überwinden trachtet: „Ich suche in individuellen Geschichten nach gemeinsamen Normalitäten in Bezug auf die Lebensplanung junger Erwachsener. Mich interessiert, welche gesellschaftlichen Diskurse in den Lebensentwürfen der Befragten sichtbar werden.“ (S. 42, Hervorhebung im Original) Als gesellschaftstheoretischer Rahmen dienen ihr die Ansätze von Ulrich Beck, Elisabeth Beck-Gernsheim und Anthony Giddens, wobei die Rezeption dieser Ansätze etwas knapp ausfällt und Gemeinsamkeiten ausmacht, wo bei näherem Hinsehen größere Differenzierungen angebracht gewesen wären.

Hinsichtlich der geschlechtertheoretischen Grundlegung bezieht sich Schwiter im dritten Kapitel auf das von Andrea Maihofer entwickelte Konzept von Geschlecht als Existenzweise. Dieses zieht sie heran, um die vergeschlechtlichten Diskurse in den Erzählungen der Befragten herausarbeiten zu können und zu zeigen, welche Konzeptualisierungen von Geschlecht diese (re)produzieren. In Anlehnung an Foucault will Schwiter in ihrem diskursanalytischen Vorgehen Beziehungen zwischen Aussagen nachzeichnen. Ihre Auseinandersetzung mit Foucaults Überlegungen und seiner Methodik ist knapp und zielführend. Für die Diskursanalyse wurden zwei Schritte vorgenommen: die Analyse der Gegenstände und Begriffe, die in den verschriftlichten Erzählungen der jungen Erwachsenen auftauchen, und die Untersuchung der Verflechtung der dokumentierten Aussagemuster zu einem Diskurs. Daneben informiert die Autorin hier auch über das mittels theoretischer Kriterien zusammengestellte Sample der Interviewten (in der Studie ist leider fälschlicherweise von einer Stichprobe die Rede).

Zukunftsvorstellungen junger Erwachsener

Im umfangreichsten Teil II der Studie präsentiert Schwiter die diskursanalytisch gewonnenen Aussagemuster der zu ihren Zukunftsvorstellungen Befragten. Dieser Teil besteht über weite Strecken aus Interviewzitaten, die zum Teil nochmals in eigenen Worten zusammengefasst werden, und ist insgesamt etwas langatmig geraten. Hier wären Bündelungen und Zuspitzungen hilfreich gewesen, in denen die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den Aussagen stärker herausgearbeitet werden, gegebenenfalls auch unter Verzicht auf einige Zitate. Inwiefern sich die Maximierung der Perspektiven, die für die Konstruktion des Samples eine so große Rolle spielte und ausführlich dargestellt wird, letztlich im empirischen Material widerspiegelt, bleibt offen.

Die vier Kapitel sind streng nach Themen gegliedert, wobei es dennoch vereinzelt zu Überschneidungen kommt. Zunächst geht es um Ausbildung, Beruf und Erwerbsarbeit. Die jungen Erwachsenen stellen die Berufsfindung als autonome Entscheidung dar, für die sie die Verantwortung zu tragen haben. In der Zukunft möchten sie ihre eigenen Fähigkeiten und Bedürfnisse im Beruf verwirklichen können und auf dem Arbeitsmarkt als gut ausgebildete und flexibel einsetzbare Arbeitskraft gefragt sein. Geschlecht und Milieu scheinen dabei keine Rolle zu spielen.

Im Hinblick auf Kinderwunsch und Familiengründung wird deutlich, dass aus Sicht der Befragten das Kinderhaben zu einem erfüllten Leben gehört. Dabei formulieren sie sehr hohe und vergeschlechtlichte Anforderungen, die werdende Eltern erfüllen müssen: eine langjährige heterosexuelle Partnerschaft, finanzielle und berufliche Sicherheiten und die Bereitschaft, den Kindern die erste Priorität im Leben einzuräumen. Vorstellungen zu Elternschaft, Vatersein und Muttersein stehen demnach im folgenden Kapitel im Mittelpunkt. Hier arbeitet Schwiter heraus, an welchen Punkten sich die Befragten von ihren Eltern distanzieren und welche geschlechterdifferenzierenden Ansichten sie über gute Mütter und Väter entwerfen. Dabei wird deutlich, dass Elternschaft nicht ohne geschlechtliche Markierungen beschrieben werden kann: Das gegenwärtig vorhandene Verständnis von Elternschaft mit seiner Unterscheidung in Mutter- und Vaterschaft wird in den Aussagen der Befragten aufrechterhalten und reproduziert. Auffällig ist aber, dass die Interviews einen Wandel in den Vorstellungen von guter Vaterschaft widerspiegeln: Gute Väter sind demnach Väter, die sich Zeit nehmen für ihr(e) Kind(er). Mutterschaft hingegen wird weiterhin als ‚natürlich‘ und selbstverständlich dargestellt: Gute Mütter wollen immer für das Kind da sein. Neu ist jedoch, dass sich gute Mütter zugleich auch selbst in einem eigenen Leben verwirklichen.

Als viertes Thema behandelt die Autorin schließlich die Vorstellungen zur Arbeitsteilung. Während die Befragten im Hinblick auf ihre Eltern eine Dominanz des Ernährer-Hausfrau-Modells beschreiben, entwerfen sie die Arbeitsteilung in ihrer eigenen Partnerschaft und künftigen Familie als Verhandlungssache. Wer welche Anteile an Haus-, Familien- und Erwerbsarbeit übernehme, sei offen und situationsspezifisch abzusprechen. Trotz des Anspruchs auf Verhandlung wird deutlich, inwiefern zugleich geschlechtsspezifische Normen fortbestehen. Zwar wird antizipiert, dass Mütter nun auch erwerbstätig sind und sein wollen, doch kommt ihrer Erwerbstätigkeit im Lebensentwurf eine geringere Bedeutung als bei den Vätern zu. Männer haben nach wie vor für rund 40 Berufsjahre zu planen, Frauen hingegen erst einmal nur bis zur Geburt. Das Ergebnis der Aushandlungsprozesse hinsichtlich der Arbeitsteilung bleibt letztlich an der Norm des Ernährer-Hausfrau-Modells orientiert, so dass die Abweichungen gegenüber der Elterngeneration gering sind.

Der Diskurs individualisierter Lebensplanung

Im dritten Teil diskutiert Schwiter ihre Ergebnisse mit dem Ziel, den Diskurs aufzuzeigen, der eine ganz bestimmte Art und Weise des Sprechens über Lebensplanung konstituiert. Aus der Verflechtung der Aussagemuster erkennt sie den Diskurs individualisierter Lebensplanung, gemäß dem sich die jungen Erwachsenen selbst als autonome und selbstverantwortliche Lebensplaner/-innen verstehen. Sie zeichnen das Bild einer sich schnell wandelnden und unwägbaren Zukunft, wobei sie aber gleichzeitig die volle Verantwortung für ihre lebensplanerischen Entscheidungen übernehmen. Dabei wird auch ein Spannungsverhältnis sichtbar zwischen der wahrgenommenen Autonomie der Lebensplanung und der Paarnormativität, nämlich der Vorstellung von einem Leben zu zweit.

Das Verständnis von Geschlecht, das im Diskurs selbstverantwortlicher Lebensplanung deutlich wird, beleuchtet die Autorin in einem nächsten Schritt. Ihre Analysen belegen eindrucksvoll, dass dieser Diskurs durch ein gleichzeitiges Nebeneinander der Vorstellung von einer nicht geschlechtsgebundenen, individuellen und also einzigartigen Persönlichkeit und dem unhinterfragten Fortbestehen vergeschlechtlicher Normen gekennzeichnet ist. Dies deutet sie in Anlehnung an Maihofer als „[p]aradoxe Verschränkung von gegenläufigen Prozessen“ (S. 235), die ein Charakteristikum der gegenwärtigen Gesellschaft sei.

Privatisierung der Geschlechterverhältnisse aus Ausdruck neoliberaler Gouvernementalität

Im zehnten Kapitel schließlich führt Karin Schwiter die Ergebnisse zusammen. Der Diskurs individualisierter Lebensplanung eröffne auf individueller Ebene Spielräume zur Überschreitung bisheriger Geschlechtergrenzen und immunisiere gleichzeitig Geschlechterungleichheiten, die auf kollektiver Ebene bestünden, gegen Kritik. So werde eine „Privatisierung der Geschlechterverhältnisse“ (S. 243) bewirkt, die Ausdruck der gegenwärtigen neoliberalen Gouvernementalität sei. Gerade vor diesem Hintergrund betont die Autorin, wie wichtig es für die Geschlechterforschung sei, die gesellschaftliche Genese von Geschlechterverhältnissen und Geschlechterkonstruktionen wieder in den Blick zu rücken, um diese auch auf gesellschaftlicher Ebene hinterfragen und verändern zu können.

Mit diesem Plädoyer für eine gesellschaftsanalytische Geschlechterforschung, die bei allem Interesse an kontextbezogenen Fallstudien aufmerksam für gesellschaftliche Bedingungen und Verhältnisse ist, verleiht Schwiter abschließend ihrer auf Normenanalyse orientierten Studie einen politischen Subtext. Dieser kommt vermeintlich unscheinbar daher, weil im Material verankert, und leider geht er auch etwas in der breiten Darstellung des empirischen Materials unter. Unversehens wiederbelebt wird so das eigentlich schon alte Postulat, dass das Private politisch sei, und daraufhin neu beleuchtet, wie politisch es gegenwärtig ist bzw. sein sollte. Hier wünscht sich die Leserin mehr und weiterführende Überlegungen zu theoretischen Zuspitzungen und künftigen Fragestellungen, auch über die Untersuchung hinaus. Der vorliegenden Studie hätte ein Sprachlektorat sicher gut getan. Das schmälert ihr Verdienst jedoch nicht, Geschlechterforschung, Gesellschaftsanalyse und die Erforschung von Lebensentwürfen selbstverständlich miteinander zu verknüpfen und eindrucksvoll die Paradoxien aufzudecken, die die Lebenspläne junger Erwachsener angesichts einer kontingenten Zukunft gegenwärtig prägen.

URN urn:nbn:de:0114-qn:978:3

Prof. Dr. Heike Kahlert

Ludwig-Maximilians-Universität München

Institut für Soziologie, Lehrstuhlvertretung für Soziologie mit Schwerpunkt „Soziale Entwicklungen und Strukturen“

Homepage: http://www.heike-kahlert.de

E-Mail: heike.kahlert@soziologie.uni-muenchen.de

(Die Angaben zur Person beziehen sich auf den Stand zum Veröffentlichungsdatum.)

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