Hanna Meißner:
Jenseits des autonomen Subjekts.
Zur gesellschaftlichen Konstitution von Handlungsfähigkeit im Anschluss an Butler, Foucault und Marx.
Bielefeld: transcript Verlag 2010.
303 Seiten, ISBN 978-3-8376-1381-0, € 29,80
Abstract: Die Autorin nimmt feministische und postkoloniale Problematisierungen des Subjektbegriffes auf. Diese implizieren eine grundsätzliche Infragestellung subjektiver, kritischer Handlungsfähigkeit. Um die Vorstellung einer solchen nicht gänzlich verwerfen zu müssen, rekonstruiert sie drei theoretische Perspektiven (Judith Butler, Michel Foucault, Karl Marx) mit unterschiedlichen Reichweiten und Gegenständen, die aber gemein haben, subjektive Handlungsfähigkeit gerade als Effekt widersprüchlicher Strukturen zu konzeptionalisieren. Dabei fokussiert sie nicht die – durchaus vorhandenen – Widersprüche zwischen den Ansätzen, sondern stellt sie in Form einer Synopse nebeneinander.
Ausgangspunkt von Hanna Meißners Überlegungen bildet die feministische und postkoloniale Kritik des Subjektbegriffes bürgerlicher Aufklärung. Entsprechende Interventionen „haben zeigen können, dass das aufklärerische Verständnis von Emanzipation als Befreiung des Subjekts aus Abhängigkeit und Unmündigkeit eine eurozentrisch-patriarchale Perspektive impliziert. Das autonome Subjekt, das frei und rational Entscheidungen trifft, ist die phantasmatische Figur des (bürgerlichen, weißen, heterosexuellen) Mannes, der als solcher von allen geistigen und körperlichen Abhängigkeiten befreit ist und daher den Anspruch erhebt, selbstbestimmt auf der Basis innerer Relevanzstrukturen vernünftig handeln zu können.“ (S. 9 f.) Eine solche Infragestellung tradierter Konzeptionen von Subjektivität hat schwerwiegende Konsequenzen für gesellschaftstheoretische Erwägungen, insbesondere wenn sie in kritisch-emanzipatorischer Absicht angestellt werden: Wenn Subjekte nicht auf einem autonomen Standpunkt verortet werden können, von dem aus sie verändernd in die Welt eingreifen; wenn sie also selbst Produkte dieser Welt sind – lässt sich dann überhaupt an einem Begriff von subjektiver Handlungsfähigkeit festhalten, oder bleibt nur die Determinierung durch gesellschaftliche Strukturen? Und wäre das nicht sogar das Ende aller Hoffnung, die da lautet: „Eine andere Welt ist möglich.“ (S. 9; Hervorh. i. O.)? Diese Frage ist aus zwei Gründen auch eine wichtige Fragestellung feministischer Debatten: Einerseits haben diese entscheidend zur skizzierten Verunsicherung des autonomen Subjekts der Moderne beigetragen. Andererseits ist aber auch das Subjekt Frau als Subjekt des modernen Feminismus nicht vor eben dieser Verunsicherung gefeit.
Die Autorin hält sich nicht damit auf, die Diskussion bis zu diesem Punkt zu rekonstruieren, sondern beginnt sogleich mit der Entwicklung ihres Vorschlags, wie der geschilderten Sackgasse zu entkommen sei. Ihre Herangehensweise ist originell: Sie macht drei theoretische Entwürfe aus, die auf unterschiedliche Weise „das Spannungsfeld von Determinismus und Voluntarismus produktiv überwinden und es dadurch ermöglichen, (widerständige) Handlungsfähigkeit als immanente Effekte von Strukturen zu begreifen“ (S. 11; Hervorh. i. O.) – namentlich handelt es sich um die Arbeiten von Judith Butler, Michel Foucault und Karl Marx. Diese sollen nicht derart aufeinander bezogen werden, dass sie wechselseitig ihre jeweiligen „Lücken“ ausgleichen – Meißner bezeichnet ihre Umgangsweise mit den drei Perspektiven stattdessen als „synoptisch-komparativen Aufweis ihrer analytischen Reichweite“, der geeignet sei, „die stillschweigenden Voraussetzungen oder analysestrategischen Auslassungen der einzelnen Perspektiven“ sichtbar zu machen (S. 14).
Überraschend ist der Aufbau des Buches. Meißner geht in Umkehrung der theoriegeschichtlichen Chronologie vor. Beginnend mit Butler arbeitet sie sich über Foucault zum Marx des 19. Jahrhunderts vor (respektive zurück). Begründet wird dies damit, dass die Auseinandersetzung mit Fragen der Subjektivierung bei Butler am deutlichsten als Arbeitsschwerpunkt zu erkennen ist. Damit allerdings handelt sie sich in der Darstellung ein Problem ein, das vermeidbar gewesen wäre: Die Rekonstruktion von Butlers Ansatz ist nicht möglich ohne Rückgriff auf Foucault, der aber in der Abfolge des Buches ein Vorgriff ist. Mit Foucault und Marx verhält es sich ebenso. Damit wird der ohnehin hohe Anspruch des Buches noch etwas erhöht.
In den drei Hauptteilen werden die jeweiligen Fassungen von Subjekt, Subjektivität, Handlungsfähigkeit und deren Begrenzungen ausführlich rekonstruiert. Auf jeden Hauptteil folgt ein sogenanntes „Zwischenspiel“. Diese Bezeichnung ist gerade in ihrer Vagheit treffend gewählt, da es sich bei diesen kürzeren Kapiteln um eine Mischung aus Zwischenfazit, Überleitung und Ausblick handelt. Hier ist auch der Ort, an dem Rückbezüge auf feministische Diskussionen ihren Platz haben. Allerdings wird in diesen Abschnitten kein systematischer roter Faden verfolgt, die konkreten Anwendungsbeispiele wechseln: Das erste der Zwischenspiele behandelt – unter Rückgriff auf analytische Werkzeuge von Butler und Foucault – den Fall der antirassistischen Aktivistin Rosa Parks; das zweite dreht sich um die Biopolitik von Generativität; im dritten wird eine „Ethik der konstitutiven Angewiesenheit“ entworfen, die die zuvor herausgearbeiteten Verleugnungen wechselseitiger Abhängigkeit überwinden soll.
Mit Judith Butler ist Subjektwerdung zuerst ein Akt der Unterwerfung unter die normativen Anforderungen der symbolischen Ordnung. Wer intelligibel, also für andere ‚lesbar‘ werden und eine anerkannte Subjektposition erhalten will, muss sich entsprechend zurichten, muss bestimmte Routinen performativ ‚zitieren‘. Mit dieser Anpassung findet zugleich Verdrängung, Ausschluss, Verwerfung von Teilen der Individualität statt, die dann als Melancholie erhalten bleiben und sich als Zorn auf die Unterwerfungsmechanismen äußern können. Die performative Wieder-Aufführung einer im Rahmen der gegebenen symbolischen Ordnung zulässigen Subjektivität kann auch scheitern oder zumindest kleine Verschiebungen beinhalten. Obgleich Subjekte also den äußeren Bedingungen entspringen, bleiben Raum für Dissenz sowie Ansatzpunkte für subversives Handeln. Quod erat demonstrandum.
Bei Foucault geht es zentral darum, „dass jeder Widerstand notwendigerweise in die Machtverhältnisse verstrickt ist, gegen die er vorgehen will“ (S. 92). Umgekehrt funktionieren diese Machtverhältnisse nicht in einseitig unterdrückender Weise, sondern produzieren ihrerseits eine spezifische Selbstführung der Subjekte. Sie sind Teil einer geschichtlich gewordenen, spezifisch abendländischen Ordnung von Macht und Wissen. Diese definiert die Grenzen dessen, was als gesellschaftliche Normalität gilt. Subjekte haben sich aktiv in diese Normalität einzufügen, wollen sie anerkannter (und nicht pathologisierter) Teil der Gesellschaft sein. Im Gegenzug verspricht die Gesellschaft gerade die individuelle Freiheit – Anpassung mit dem Ziel der Freiheit, Freiheit um den Preis der Unterwerfung. Mit diesem Freiheitsversprechen entsteht aber zugleich ein möglicher Motivationsquell für widerständiges Handeln – jene „historische Form der Kritik, die sich darauf richtet, ‚nicht derartig, im Namen dieser Prinzipien da, zu solchen Zwecken und mit solchen Verfahren‘ [Foucault] regiert zu werden.“ (S. 134) Die fraglichen Grenzen der Normalität sind also umkämpft. Ihre Aufrechterhaltung erfordert permanente Anstrengung, und ihr Verlauf unterliegt historischen Veränderungen. Mit dieser Foucault’schen Perspektive lassen sich, so Meißner, Butlers Überlegungen zur symbolischen Ordnung historisieren und in ihrer Gewordenheit sichtbar machen.
Karl Marx wird von Meißner vermittelt über die sogenannte ‚Neue Marx-Lektüre‘ rezipiert. Diese stützt sich auf die Schriften zur Kritik der politischen Ökonomie, vorrangig Das Kapital, und liest sie als Theorie abstrakter Strukturzusammenhänge, deren Gesetzmäßigkeiten von den Einzelnen (bewusst oder unbewusst, willentlich oder nicht) exekutiert werden müssen. Die „sachliche Herrschaft“ des Wertgesetzes bezeichnet Meißner als „nicht-normative Dimension des Sozialen“ (S. 185 ff.), die entsprechend auch nicht über normative Verschiebungen in der symbolischen Ordnung emanzipatorisch bearbeitet werden kann. Dennoch bringt auch dieser Strukturzusammenhang Momente hervor, die zugleich über ihn hinausweisen. Die Zwänge kapitalistischer Konkurrenz bedingen einen Fortschritt der Produktivkräfte (des technischen und geistigen Vermögens der Gesellschaft), deren Potentiale im Rahmen kapitalistischer Produktionsverhältnisse nicht verwirklicht werden können und daher eine Umgestaltung des ökonomischen Systems verlangen.
Wenn auch Meißner mit ihrer „synoptisch-komparativen“ Herangehensweise also tatsächlich einige Gemeinsamkeiten der drei Perspektiven hinsichtlich der Konzeptionalisierung des Verhältnisses von gesellschaftlichen Strukturen, Subjektivität und Handlungsfähigkeit herauszuarbeiten vermag, die auf jeweils verschiedenen analytischen Ebenen zur Anwendung gebracht werden, so deutet sich allerdings mit dieser Marx-Lesart ein Problem an, das im Hinblick auf die Ausgangsfrage, ob eine andere Welt möglich ist , bedeutsam wird: Im Grunde verharrt die Untersuchung im Individuellen. Wo vom Subjekt die Rede ist, ist das gleichzeitig unterworfene und ermächtigte Individuum gemeint. Die Reduktion von Marx auf den Theoretiker abstrakter Strukturzusammenhänge blendet einen wesentlichen Teil seiner Emanzipationsperspektive aus, nämlich die Konstitution eines lernend voranschreitenden, sich selbst ermächtigenden Kollektivsubjekts im Modus des ‚Klassenkampfes‘. Die Klassenstruktur erscheint bei Meißner lediglich als zusätzliche Einschränkung subjektiver Handlungsfähigkeit, nicht aber als Ausgangspunkt politischen Handelns. Auch wenn es zahlreiche Gründe gibt, nicht bruchlos an diese Perspektive anzuschließen, bleibt die Möglichkeit der Konstitution kollektiver emanzipatorischer Handlungsfähigkeit doch eine Schlüsselfrage für das Praktisch-Werden von Kritik.
Möglicherweise verweist dieser Punkt auf eine grundsätzliche Schwierigkeit in Meißners Herangehensweise. Die explizite Nichtbefassung mit etwaigen Widersprüchen zwischen den theoretischen Ansätzen kann über eventuell auftretende Kompatibilitätsprobleme nur hinweggehen, auch wenn diese aus gravierenden Differenzen resultieren. Zugespitzt zeigen lässt sich das am Verhältnis der Marx’schen Perspektive zu jener Butlers. Zur Benennung einer Gemeinsamkeit zwischen allen drei behandelten Ansätzen greift Meißner häufiger auf die Formulierung zurück, sie betrachteten den Menschen übereinstimmend als „Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“. Das mag in dieser Abstraktheit richtig sein, sollte aber nicht darüber hinweg täuschen, dass sich unter „gesellschaftlichen Verhältnissen“ Unterschiedliches vorgestellt wird, was sich nicht unbedingt harmonisch zueinander verhält. So ist gerade jenes Textfragment, dem die zitierte Formulierung entnommen ist, – die Marx’schen Thesen über Feuerbach – im Kontext eines Streits um theoretische und praktische Strategien der Emanzipation entstanden, in dem Marx sich von der Gruppe der sogenannten ‚Junghegelianer‘ absetzte: Wenn er diesen vorwarf, sie würden sich Befreiung fälschlicherweise so vorstellen, dass die falschen, herrschaftlichen Gedanken durch die richtigen, befreienden zu ersetzen seien, wodurch die Welt eine andere werden würde; wenn er dem den Anspruch entgegensetzte, es seien vorrangig die materiellen Verhältnisse der Menschen zueinander zu verändern (Arbeit, Arbeitsteilung, Art der Aneignung des gemeinsamen Mehrprodukts) – wie würde er sich dann zur Hegelianerin Butler verhalten, die gesellschaftliche Verhältnisse als normierende Diskurse fasst? Und wie wiederum würde diese Kritikerin universeller Geltungsansprüche und ausschließender Effekte kollektiver Identitäten auf jemanden reagieren, der mit der Behauptung hausieren geht, „das Proletariat aller Länder“ habe „eine Welt zu gewinnen“?
Andererseits besteht die wesentliche Qualität von Meißners Arbeit genau in diesem Punkt: Es geht ihr nicht darum, die verschiedenen Ansätze mit ihren unterschiedlichen Gegenständen und Reichweiten in dieser konfrontativen Art gegeneinander in Stellung zu bringen. So ist ihr zuzustimmen, wenn sie schreibt: „Dass Subjekte in ihrem Begehren und ihren Bedürfnissen historische Wesen sind, setzt Marx voraus, er macht diesen Umstand jedoch nicht zu seinem Analysegegenstand. Mit Butler und Foucault lässt sich zeigen, dass dieser Frage gegenüber den objektiven Gesetzen der Produktionsweise eine relative Autonomie zukommt und dass sie keinesfalls mit deren Analyse bereits beantwortet ist.“ (S. 238) Besonders interessant wird diese Weise des Zueinander-Stellens der verschiedenen Ansätze im dritten sogenannten Zwischenspiel und dem oben bereits erwähnten Begriff einer „Ethik der konstitutiven Angewiesenheit“: Verleugnete wechselseitige Abhängigkeiten, die mit diesem Begriff überwunden werden sollen, finden sich in der psychischen Dynamik der Hervorbringung vergeschlechtlichter Subjekte (siehe Butler) wie auch in der Angewiesenheit kapitalistischer Produktion auf nicht-warenförmige Strukturen der Reproduktion (siehe die feministische Kritik an Marx). Trotz der skeptischen Einwürfe ist es genau dieses Bemühen um Verknüpfungen, das das Buch von Hanna Meißner zu einer unbedingt lohnenden Lektüre macht.
URN urn:nbn:de:0114-qn:984:6
Dipl.-Pol. Stefan Schoppengerd
Philipps-Universität Marburg
Promotionskolleg „Geschlechterverhältnisse im Spannungsfeld von Arbeit, Organisation und Demokratie“
Homepage: http://www.uni-marburg.de/fb03/genderkolleg/stips/schoppengerd
E-Mail: stefan.schoppengerd@staff.uni-marburg.de
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