Psychologisch orientierte Geschlechterforschung zwischen Wertneutralität und situiertem Wissen

Rezension von Heike Kahlert

Ursula Athenstaedt, Dorothee Alfermann:

Geschlechterrollen und ihre Folgen.

Eine sozialpsychologische Betrachtung.

Stuttgart: W. Kohlhammer Verlag 2011.

240 Seiten, ISBN 978-3-17-020682-3, € 32,90

Abstract: Ursula Athenstaedt und Dorothee Alfermann knüpfen in ihrem Lehrbuch zur sozialpsychologischen Geschlechterforschung an das Konzept der Geschlechterrollen an, das von den Soziologen Parsons und Bales in den 1950er Jahren in den USA entwickelt wurde. Unbeeindruckt von der seitdem in der Geschlechterforschung formulierten Kritik am Rollenbegriff liefern sie in sechs Kapiteln einen sorgfältig recherchierten Überblick über den Forschungsstand. Der affirmative Duktus gegenüber empirisch belegten Geschlechterunterschieden wirkt auch angesichts der Prominenz sozialkonstruktivistischer Ansätze in der Geschlechterforschung befremdlich. Umso erfrischender ist das Schlusskapitel, in dem die Autorinnen Empfehlungen für eine geschlechtergerechte psychologische Forschung aussprechen.

Sozialpsychologie der Geschlechterrollen

Während in weiten Teilen der Geschlechterforschung rollentheoretische Erklärungsansätze längst verabschiedet wurden, ist der Geschlechterrollenbegriff in der psychologischen und sozialpsychologischen Forschung nach wie vor weit verbreitet. Die beiden Psychologieprofessorinnen Ursula Athenstaedt und Dorothee Alfermann widmen dieser Forschungsrichtung gar die zweite Auflage eines „Lehrbuchs“ (S. 196), das erstmalig 1996 von Dorothee Alfermann unter dem Titel Geschlechterrollen und geschlechtstypisches Verhalten publiziert wurde. Als gäbe es in der inter- und transdisziplinären Geschlechterforschung keine kritische Diskussion des Rollenbegriffs, knüpfen die beiden Autorinnen an die Arbeiten der Soziologen Talcott Parsons und Robert Freed Bales an, die bereits in den 1950er Jahren typische Geschlechterrollen im Rahmen der Analyse von Interaktionsprozessen in der Familie beschrieben hatten: Männer wurden hier als Ernährer der Familie, für die Außenbeziehungen sowie die berufliche Rolle und Frauen als zuständig für familiale Angelegenheiten und die Innenbeziehungen dargestellt.

Athenstaedt und Alfermann problematisieren zwar, dass diese strikte Rollentrennung in heutigen Industriegesellschaften nicht mehr gelte, machen aber zugleich klar, dass die beschriebene Rollentrennung „in einem erweiterten Sinne dennoch den Kern“ (S. 9) treffe. Es zeige sich nämlich, dass zum einen Männer nach wie vor überwiegend in der beruflichen Sphäre tätig seien und hierdurch auch relativ klare Rollenerwartungen existierten, die auf eine Funktion als Familienernährer und auf die Erfüllung beruflicher Anforderungen und Aufgaben hinausliefen. Zum anderen sei zu konstatieren, dass Frauen zwar inzwischen in großer Zahl einer außerhäuslichen Erwerbstätigkeit nachgingen, aber dennoch ihre primäre Funktion auf die der (Ehe-)Frau und Mutter konzentriert bleibe. Die in der Geschlechterforschung formulierte Kritik, dass dieses Geschlechterrollenmodell an individuellen Einstellungen und Meinungen ansetzt und die Ungleichheitsstrukturen zwischen den Geschlechtern ignoriert, wird in dem Buch nicht aufgegriffen. Ebenso wenig problematisiert wird die strikte Trennung zwischen sex und gender, die in diesem Modell aufscheint, wenn davon ausgegangen wird, dass die Geschlechterrolle situationsbezogen übernommen, aber auch abgelegt werden kann.

Nahezu gänzlich unbeeindruckt von konstruktivistischen Ansätzen, die Geschlecht als soziale Konstruktion auffassen, aber auch von konstitutionstheoretischen Ansätzen, die die soziokulturelle Gewordenheit von Geschlechterverhältnissen in ungleich strukturierten geschlechtlichen Bedingungen aufdecken, verorten Athenstaedt und Alfermann ihre empirisch kenntnisreichen Ausführungen zum „Phänomen der Zweigeschlechtlichkeit“ (S. 185) unmissverständlich in einer sozialen Praxis, die immer schon geschlechtlich unterschiedene Personen kennt. Die an diese gerichteten geschlechtsstereotypen Erwartungen durchzögen demnach alle Lebensbereiche und mündeten in Geschlechterrollen, deren Folgen die Autorinnen dank aktiver Gleichstellungsbemühungen zumindest in westlichen Ländern in den vergangenen Jahrzehnten geringer werden sehen.

Geschlechterunterschiede in Theorien und Empirie

Sofern es in der Lektüre gelingt, den affirmativen Duktus zu respektieren, der in Bezug auf Geschlechterunterschiede das Buch über weite Strecken durchzieht, liefern die sorgfältig recherchierten Forschungsergebnisse einen guten Überblick über den Stand der sozialpsychologischen „Wissenschaft der Geschlechterunterschiede“ (S. 187).

Der Band ist in sechs Kapitel gegliedert. Eine Art Einleitung, die den Argumentationsgang bündelt und die einzelnen Kapitel zueinander in Beziehung setzt, fehlt leider und wird erst im Schlusskapitel nachgeliefert. So beginnt das Buch recht unvermittelt mit Überblicken über sozialpsychologische Erträge der Forschung über soziale Kognitionen (Kapitel 1) und Geschlechterrollen im Selbstkonzept (Kapitel 2). In Kapitel 3 wird die im Buch vertretene These des sich vollziehenden Geschlechterrollenwandels ergänzt um die Betrachtung von Geschlechterrolleneinstellungen. Die Autorinnen zeigen auf der Basis international vergleichender empirischer Ergebnisse in Bezug auf Einstellungen zur Arbeitsteilung und zur Übernahme familialer Rollen, dass die Geschlechterrolleneinstellungen über die Jahrzehnte in westlichen Ländern liberaler geworden seien. Dabei seien Kohorten-, Schicht- und Geschlechterunterschiede auffällig. Männer erweisen sich den Studien zufolge als traditioneller als Frauen, insbesondere hinsichtlich egalitärerer Einstellungen zu Partnerschaft und der geschlechtstypischen Arbeitsteilung.

In Kapitel 4 stellen Athenstaedt und Alfermann theoretische Ansätze zur Erklärung von Geschlechterunterschieden im Verhalten dar. Nur sehr kurz gestreift werden dabei die evolutionstheoretischen und die sozialkonstruktivistischen Erklärungsansätze, während die biosoziale Geschlechtsrollentheorie, die sowohl biologische als auch soziale Determinanten für geschlechtstypisches Verhalten berücksichtigt, ausführlicher präsentiert wird. Dies deutet darauf hin, dass die Autorinnen einen geschlechtertheoretischen Ansatz präferieren, der gesellschaftliche und biologische Aspekte integriert. Kapitel 5 bildet das Herzstück des Buches. In diesem umfangreichsten Kapitel werden Forschungserträge zu Unterschieden und Ähnlichkeiten der Geschlechter hinsichtlich Gesundheitsverhalten, Erwerbstätigkeit und Berufswahl sowie Sozialverhalten referiert.

Methodologische Balanceakte

Bemerkenswert sind darin die methodischen Reflexionen zu statistischen Aussagen über Geschlechterunterschiede: Den Autorinnen zufolge werden die Unterschiede zwischen den Geschlechtern zumeist überschätzt und die Differenzen innerhalb der Geschlechter teilweise unterschätzt. Hier deutet sich zaghaft eine wissenschaftstheoretische Positionierung an, die im abschließenden Kapitel 6 offensichtlich gemacht wird und die die zum Teil bis dahin etwas ermüdenden Darstellungen der Forschungsergebnisse methodologisch in einem anderen Licht erscheinen lässt. Nicht nur wegen der fehlenden Einleitung, sondern auch wegen der erfrischenden Positionierung der Autorinnen in wissenschaftstheoretischen Grundlagen der Geschlechterforschung empfiehlt es sich, die Lektüre des Buches mit dem kurzen Schlusskapitel zu beginnen.

Die letzten zwölf Seiten verdeutlichen, mit welchen vermeintlich widersprüchlichen Erkenntnishaltungen das Buch geschrieben wurde: einerseits einer Haltung verpflichtet, die „möglichst wertneutral“ (S. 185) an Forschungsfragen herangeht und „ernstzunehmen“ (S. 188) ist, andererseits einer Einstellung verhaftet, sich „selbst und auch der Öffentlichkeit gegenüber ehrlich [zu] sein“ (ebd.), was bedeutet, anzunehmen, „dass die eigene Geschlechtszugehörigkeit und die Auffassung von der eigenen Geschlechterrolle“ (ebd.) oder auch die eigene Biographie einen Einfluss auf den wissenschaftlichen Prozess haben. Dieses vorsichtige Bekenntnis der Autorinnen zum politischen Gehalt der „Geschlechterunterschiedsforschung“ (S. 189) mündet in eine wohlformulierte Kritik an einer geschlechtstypischen (bisher zumeist männlichen) Voreingenommenheit der bisherigen sozialpsychologischen Forschung – von der Formulierung der Forschungsfrage über die Methodenwahl bis zu Datenanalysen, Interpretationen der Ergebnisse und Schlussfolgerungen für praktische Anwendungen. Das Fazit ist nüchtern: „Die Forschung zu Geschlechterunterschieden findet nicht unbeeinflusst von sozialen Wertvorstellungen statt.“ (S. 195) Mehr noch: Forschung allein trage nicht zur Veränderung der sozialen Praxis bei, sondern erst deren „Umsetzung […] in die Praxis“ (S. 197) etwa durch Bewusstmachung von Geschlechterstereotypen und Gendertraining: „Packen wir es an.“ (ebd.)

Mit Spannung kann der dritten Auflage dieses sprachlich manchmal etwas nachlässig formulierten Lehrbuchs entgegengesehen werden: Möglicherweise gelingt es dann ja, gegenüber dem Geschlechterrollenbegriff zumindest etwas skeptischer zu sein und die sich in den Schlussbemerkungen artikulierende kritisch-reflexive Erkenntnishaltung systematisch in die Darstellung der referierten Forschungsergebnisse einfließen zu lassen.

Prof. Dr. Heike Kahlert

Ludwig-Maximilians-Universität München

Institut für Soziologie, Lehrstuhlvertretung für Soziologie mit dem Schwerpunkt Soziale Entwicklungen und Strukturen

Homepage: http://www.heike-kahlert.de

E-Mail: heike.kahlert@soziologie.uni-muenchen.de

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