Thorsten Hunsicker:
Männlichkeitskonstruktionen der Jungenarbeit.
Eine gender- und adoleszenztheoretische Kritik auf empirischer Grundlage.
Schwalbach/Ts.: Wochenschau-Verlag 2012.
334 Seiten, ISBN 978-3-89974-763-8, € 39,80
Abstract: Hunsicker entwickelt eine psychoanalytische Theorie der Adoleszenz und kombiniert diese mit dekonstruktivistischer Geschlechtertheorie. Auf dieser Basis kritisiert er eine Jungenarbeit, die eine Stabilisierung männlicher Identität anstrebe und keine umfassende (selbst-)kritische Reflexion von Geschlechterhierarchien, -dualismen und -zuschreibungen praktiziere. Daraus entstehe eine Reproduktion von Geschlechternormen und innermännlichen Hierarchien, was die Entwicklung von Reflexivität und Autonomie in der Adoleszenz behindere. Hunsickers inhaltlich spannende Studie könnte wichtige Diskussionen innerhalb der geschlechtssensiblen Pädagogik beleben, was durch die teilweise unverständliche und unklare Darstellung jedoch erschwert wird.
In seiner 2010 eingereichten Dissertation präsentiert Thorsten Hunsicker eine psychoanalytisch und geschlechtertheoretisch fundierte Auseinandersetzung mit der geschlechtshomogenen politischen Bildungsarbeit mit männlichen Jugendlichen. Der Autor theoretisiert Subjektentwicklung in der Adoleszenz im Hinblick auf Autonomieentwicklung und verknüpft dies mit dekonstruktivistischer Geschlechtertheorie. Auf dieser Basis setzt er sich kritisch mit Konzepten der Jungenarbeit auseinander und schlussfolgert, dass Ansätze und Praktiken der Jungenarbeit adoleszente Autonomieentwicklung nicht angemessen fördern und kaum zur Entwicklung einer queeren Handlungsfähigkeit beitragen, weil ihr Fokus auf Männlichkeitsförderung gerichtet ist und sie auf eine Dekonstruktion von Zweigeschlechtlichkeit verzichten. Des Weiteren analysiert Hunsicker ein Jugendbildungsseminar und arbeitet heraus, dass dessen jugendliche Teilnehmer aufgrund ihres Autonomiestrebens Widerstände gegenüber der erwachsenen Vereinnahmung und Reflexionsbereitschaft zeigen, was jedoch vom durchführenden Pädagogen nicht beantwortet wird.
Im ersten Kapitel beschreibt Hunsicker die Adoleszenz als eine Entwicklungsphase, in welcher eine Loslösung von bisherigen Beziehungen stattfindet und Auseinandersetzungen mit neuen Themen wie Generativität und geschlechtliche Differenz entstehen. Als zentrale Aufgabe und Tendenz der Entwicklung in dieser Phase sieht er die Ausbildung von Autonomie in Anerkennung der Wechselseitigkeit von Angewiesensein und Unabhängigkeit. Dafür komme der Triangulierung – verstanden als exploratives Heraustreten aus dyadischen, symbiotischen und beschränkenden Beziehungsstrukturen und Integration eines dritten Standpunkts zur Reflexion eigener Beziehungen – eine besondere Bedeutung zu. Durch Triangulierung könnten Mehrperspektivität, Differenzierung, Dezentrierung und Autonomie entwickelt und Selbstbezüge und Selbstgefühl gestärkt werden. Darin sieht Hunsicker in der Adoleszenz zugleich eine Chance zur Denormalisierung und Enthierarchisierung von Geschlechterverhältnissen.
Der Autor bezieht sich auf verschiedene psychoanalytische Strömungen und Erkenntnisebenen wie die Objektbeziehungstheorie, Subjektbeziehungstheorie, interpersonelle Psychoanalyse und die Gruppenanalyse. Leser_innen mit geringen Vorkenntnissen in diesem Feld dürfte der Text nur schwer zugänglich sein, da keine verständliche Einführung gegeben wird und die Ausführungen nicht immer klar strukturiert sind. Auch Hunsickers geschlechtertheoretischer Standpunkt – im Kern von der Kritik an Geschlechterhierarchien und normativer Zweigeschlechtlichkeit bestimmt – wird nicht explizit und systematisch eingeführt, sondern ist in die spätere Diskussion von Jungenarbeit eingelassen und muss aus verstreuten Bemerkungen erschlossen werden. Während er der Jungenarbeit die mangelnde Berücksichtigung feministischer Theoriebildung vorwirft, verzichtet er bedauerlicherweise selbst auf eine systematische Einbindung feministischer Auseinandersetzungen mit der Psychoanalyse und diskutiert auch lediglich nebenbei die heteronormativen Tendenzen aktueller psychoanalytisch orientierter Veröffentlichungen zu Jungen, Männlichkeit und Pädagogik.
Konzepte der Jungenarbeit haben nach Hunsicker zwei wesentliche gemeinsame Elemente: erstens die Organisation geschlechtshomogener Bildungsräume, die mit einem Ausschluss von Mädchen und Weiblichkeit einhergeht; zweitens die Präsenz von Männern und Männlichkeit, wodurch eine männliche Verlassenheit infolge der Feminisierung von Familien- und Erziehungskontexten überwunden werden soll. Im Umgang mit Geschlechterdifferenz beobachtet der Autor in der Jungenarbeit drei Muster: Kommutation (Veränderung und Austausch von Geschlechtsrollen), Androgynie (Aneignung bzw. Entdeckung weiblicher Selbstanteile) oder Paternalismus (Zurückweisung weiblicher Identitätsmuster und Wiederentdeckung männlicher Energien).
Diesen Grundlagen und Prinzipien liege ein naturalisierendes und bipolares Verständnis von Geschlecht zugrunde, welches Machtverhältnisse nicht ausreichend reflektiert und die vermeintlich angezielte Auflösung von Fixierungen letztlich in bevormundenden pädagogischen Herangehensweisen konterkariert. Einen „qualitativen Entwicklungsschub in Richtung eines Zuwachses an Autonomie“ könne Bildungsarbeit nur bewirken, „wenn die Inanspruchnahme der Jungen innerhalb der geschlechterhomogenen Bildungsarbeit konzeptionell reguliert ist, Vergeschlechtlichung und Hierarchisierung nicht erzwungen werden und ‚Multiperspektivität‘ unter Einschließung geschlechterübergreifender und insbesondere triangulierender Aneignungschancen gewahr bleibt“ (S. 77). Leider unterlässt Hunsicker eine Konkretisierung über die abstrakte Forderung nach Dekonstruktion von Zweigeschlechtlichkeit und kritischer Reflexion von Männlichkeit und Macht hinaus, so dass nicht klar wird, was genau Pädagog_innen tun müssten, um Triangulierung zu fördern bzw. ‚das Dritte‘ einzuführen.
Problematisch ist, dass der vom Autor diskutierte Fachdiskurs etwa auf dem Stand des Jahres 2000 ist. Unberücksichtigt bleiben somit solche Beiträge, in welchen seitdem ebenfalls der Fokus auf die Bildung männlicher Identität in der Jungenarbeit kritisiert und ein Rollenverständnis der männlichen Pädagogen problematisiert wird, welches diese als Vorbilder oder Beispiele begreift, deren bloße Anwesenheit bereits die Entwicklung von Selbstbezogenheit und innerer Vielfalt fördere. Der Erfolg dieser kritischen Beiträge, der sich beispielsweise in der Distanzierung mancher Autoren von früheren essenzialistischen Positionen zeigt, wird hier ebensowenig sichtbar wie die zunehmende Berücksichtigung des Vielfaltsparadigmas in der Jungenarbeit. Auch tauchen die durchaus vorhandenen macht- und identitätskritischen Konzepte nicht auf, und es entsteht ein schiefes Bild einer nicht entwicklungsfähigen Jungenarbeit ohne selbstkritische Auseinandersetzungen.
Hunsicker vertieft seine Auseinandersetzung mit Jungenarbeit durch die Analyse eines fünftägigen Seminars zur Entwicklung sozialer Kompetenzen von männlichen Jugendlichen einer 9. Hauptschulklasse. In der Auswertung beschränkt sich der Autor auf die Vorgänge des dritten Seminartages. Im Mittelpunkt der ethnohermeneutischen Interpretation stehen die pädagogischen Methoden und die per Aufnahmegerät erhobenen Wortbeiträge, deren unbewusster Gehalt mittels Gegenübertragungsanalyse erarbeitet wird. Der methodologisch interessante Fokus auf „Sprachruinen“, die „zu den unbewusst gemachten, also der Diskursivität beraubten Welt- und Selbstbildern und Motiven führen“ (Bosse, zit. auf S. 131), ist in den späteren Ausführungen jedoch nicht klar erkennbar. Im empirischen Teil der Arbeit finden sich erneut theoretische Ausführungen oder längere Zitate, die teilweise fehlplatziert wirken.
In der Analyse der Szenen, deren Auswahl allerdings nicht begründet wird, hebt Hunsicker zunächst auf Triangulierung und die Entwicklung von Autonomie ab und zeigt auf, „wie die geschlechterpolarisierende Seminararbeit in Widerstreit mit autonomiestiftenden Selbstauffassungen der Jungen gerät“ (S. 9). Dabei geht es vor allem um die Teilnehmer, die beispielsweise in der Aneignung des Aufnahmegeräts des Forschers einen Standpunkt des Außen einnehmen und dadurch einerseits das eigene Autonomiestreben abbilden, andererseits sich selbst zum Objekt von Betrachtung machen und auf verschiedene Weisen Reflexionsbereitschaft zeigen. Der leitende Pädagoge hingegen rege wenig Reflexion im triangulierenden Sinne an, sein Angebot bestehe eher in dyadischen Beziehungsmustern von Vereinnahmung, Übernahme, Ein- und Ausschluss oder idealisierter Nachfolge. Hunsicker sieht dies in den Prämissen von Jungenarbeit begründet, die auf einer Korrektur von Geschlechtsrollen fixiert seien und in denen weder offene Reflexionen noch zunehmende Autonomie der Jugendlichen vorgesehen seien.
Unter Hinzunahme der Analysekategorie Geschlecht macht Hunsicker im Angebot des beobachteten Pädagogen zudem Mannwerdungsrituale und die Etablierung innermännlicher Hierarchien deutlich, wobei er auch seine eigene Komplizenschaft reflektiert mit Blick auf ein von ihm und dem Pädagogen eingebrachtes Rollenspiel, welches den Jungen ihren Status als weniger erfahrene ‚Noch-nicht-Männer‘ vorführte. Die Dynamik zwischen Gruppe und Teamer werde insgesamt von Konflikten um Hierarchien und Anerkennung adoleszenter Männlichkeit dominiert, die sich auch in der Inszenierung von Rivalitäten zeigen. Pädagogische Spiele dienten hier nur noch dazu, dass alle Seiten ihre widersprüchlichen Interessen verdeckt verfolgen können, jedoch keine Auseinandersetzung und Überwindung der Konflikte stattfinden.
In der Interpretation einer Massageübung, an welcher der Pädagoge selbst teilnimmt, zeigt Hunsicker schließlich, wie die Jungen die von ihnen wahrgenommene Überschreitung ihrer körperlichen Grenzen und die hierarchische Sitzungsstruktur zur Sprache bringen, wenn etwa ein Teilnehmer von den anderen Teilnehmern „Hinlegen, Maul halten, entspannen!“ (S. 295) einfordert. Darüber hinaus verdeutlicht der Autor hier, wie einzelne Jungen thematisieren, dass die ihnen vermittelte fürsorgliche Männlichkeit (in Form der gegenseitigen Massage) im Widerspruch zu der vom Pädagogen praktizierten innermännlichen Hierarchisierung steht. Gerade in diesem Teil erweist sich Hunsickers Perspektive als produktiv, da derartige Dynamiken durch die sonst übliche rein geschlechtertheoretische Interpretation pädagogischer Szenen aufgrund des Verbleibens auf der manifesten Sinnebene nicht herausgearbeitet werden können.
Mit seiner Studie liefert Thorsten Hunsicker einerseits einen interessanten und eigenständigen Beitrag zur Diskussion von Jungenarbeit. Gerade die Verknüpfung der Analyseperspektiven Triangulierung, Autonomie und Geschlecht bereichert die Diskussion über die konzeptuelle Orientierung der pädagogischen Arbeit mit Jungen. Sie ermöglicht es, die weiterhin existierende Zielsetzung von Jungenarbeit, männliche Identität zu fördern und Jungen mit männlichen Bezugspersonen zu versorgen, nicht nur geschlechtertheoretisch, sondern auch unter einer entwicklungspsychologischen Perspektive zu diskutieren. Der Autor vertritt gut begründet, dass für eine geschlechterpolitisch emanzipatorische Pädagogik, die Autonomie- und Anerkennungsbestrebungen von Jugendlichen berücksichtigen will, die Dekonstruktion von Zweigeschlechtlichkeit und Geschlechterhierarchien sowie die Organisation von Orten der reflexiven und kritischen Auseinandersetzung mit Geschlechterverhältnissen notwendig sind.
Andererseits sind diesem Beitrag aufgrund der teilweise unzureichenden Verständlichkeit und unklaren Darstellungsstruktur sowie der mangelnden Aktualität der diskutierten Konzepte Grenzen gesetzt. Ob das Buch einem kritischen und zugleich interessierten Austausch über die pädagogische Arbeit mit Jungen dienlich ist und die gegenwärtige Praxis der Jungenarbeit anregen kann, ist daher zu bezweifeln.
Thomas Viola Rieske
Universität Potsdam
Dipl.-Psychologe und Doktorand
E-Mail: rieske@uni-potsdam.de
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