Regine Gildemeister, Katja Hericks:
Geschlechtersoziologie.
Theoretische Zugänge zu einer vertrackten Kategorie des Sozialen.
München: Oldenbourg Wissenschaftsverlag 2012.
358 Seiten, ISBN 978-3-486-58639-8, € 34,80
Abstract: Das Lehrbuch von Regine Gildemeister und Katja Hericks bietet erstmalig im deutschsprachigen Raum einen ordnenden Überblick über Thematisierungsweisen und Konzeptionen von Geschlecht in soziologischen Theorien. Dabei vertreten die Autorinnen die These, dass es Aufgabe der Geschlechtersoziologie sei, über Geschlecht als Gegenstand zu reflektieren, statt es als Analysekategorie zu verwenden. Der vorliegende Versuch, das soziologisch-theoretische Geschlechterwissen systematisch zu bündeln, ist sinnvoll und überfällig und regt mit seiner konsequenten Engführung der Argumentation zum kritisch-reflexiven Weiterdenken an. Insbesondere mit Blick auf die Hauptzielgruppe der Studierenden sind aber einige sprachliche Ungenauigkeiten und ein ab und an nachlässiger Umgang mit der verwendeten Literatur zu bemängeln.
Nach dem Studienskript Soziologische Geschlechterforschung von Brigitte Aulenbacher, Michael Meuser und Birgit Riegraf (Wiesbaden u.a.: VS Verlag 2010) sowie der zweibändigen Einführung in die sozialwissenschaftliche Geschlechterforschung (Weinheim: Juventa 2010 und 2011) von Karl Lenz und Marina Adler liegt nun mit dem Band von Regine Gildemeister und Katja Hericks binnen kürzester Zeit ein drittes Lehrbuch zur Geschlechtersoziologie vor. Offensichtlich gibt es innerhalb der Soziologie das Bedürfnis und wohl auch den Bedarf, das soziologische Geschlechterwissen für die Lehre aufzubereiten. Dabei werden durchaus unterschiedliche Zugänge und konträre Erkenntnispositionen vertreten.
Gildemeister und Hericks verorten ihren Erkenntnisgegenstand streng in der Soziologie. Dies wird nicht nur im Titel des Lehrbuchs unmissverständlich deutlich, sondern auch in der Konzeption des Bandes, in dem ein Streifzug durch die gut zweihundertjährige Geschichte der Thematisierungsweisen und Konzeptionen von Geschlecht in soziologischen Theorien von den Anfängen bis zur Gegenwart vorgenommen wird. Dabei wird immer wieder ein Bezug der vorgestellten Erkenntnisse zu den politisch motivierten Frauenbewegungen hergestellt.
Die Autorinnen lassen keinen Zweifel daran, dass ihr Lehrbuch allein wissenschaftlichen Ansprüchen folgt und folgen will. So grenzen sie sich bereits in der Einleitung deutlich von einer namentlich nicht näher benannten Position ab, die ein Lehrbuch zur Thematisierung von Geschlecht in der Soziologie vermeintlich als Teil der sozialen Bewegung von Frauen versteht und einer „moralische[n] Sichtweise“ (S. 3) folgt. Aufgabe soziologischer Forschung und Theoriebildung sei es ausschließlich, „in genuin soziologischer Weise“ (S. 3) über Geschlecht als Gegenstand zu reflektieren: „Das impliziert, dass in einer solchen Perspektive Geschlecht nicht einfach naturhaft gegeben ist, sondern sozial erzeugt wird und sich trotz massiven sozialen Wandels immer neu reproduziert. Die unterschiedlichen Zugänge, die wir vorstellen werden, verdeutlichen, dass aus ‚Geschlecht‘ allein keine Analysekategorien folgen, sondern die Theorie darüber entscheidet, welche Dimensionen sozialer Wirklichkeit einer Analyse zugänglich gemacht werden (können).“ (S. 3)
Durch die im Buch gegenüber bisherigen Arbeiten zur soziologischen Frauen- und Geschlechterforschung verfolgte „grundsätzlich andere Herangehensweise“ (S. 316) an die Vorstellung der soziologischen Theorien zu Geschlecht werden dabei die Arten und Weisen der Geschlechterunterscheidung und nicht die Geschlechterunterschiede in den Blick genommen. Ziel sei eine „Erforschung von Geschlecht“ (S. 316, Hervorhebung im Original). Diese ermögliche, die Paradoxie von Gleichheit und Differenz der Geschlechter zu überwinden und den damit verbundenen „Denkgefängnisse[n]“ (S. 3) zu entkommen, die „von der Aufklärung bis heute eine offene, systematische und dezidiert soziologische Erforschung von Geschlecht“ (S. 3) erschwerten.
Zu den Stärken des Lehrbuchs gehört, dass Gildemeister und Hericks ihre Suchbewegungen nach den Arten und Weisen der Geschlechterunterscheidung in der Soziologie jeweils in den historischen Kontexten verorten. Soziologisches Denken, das Denken der Autorinnen eingeschlossen, wird so als untrennbar verknüpft mit sozialen Entwicklungen und Strukturen begriffen. Eine weitere Stärke des Buchs ist die konsequente Einbettung der vorgestellten Thematisierungen und Konzeptionen von Geschlecht in die jeweilige soziologische Theorie, so dass der Band auch als auf den Gegenstand Geschlecht fokussierte Einführung in soziologische Theorien gelesen werden kann.
Die großformatige und stolze 317 Seiten Text zuzüglich 39 Seiten Literaturverzeichnis sowie Personen- und Sachregister umfassende Suche nach der Befassung mit Geschlecht in soziologischen Theorien ist einschließlich Einleitung und Schluss in 10 gehaltvolle Kapitel gegliedert. Ausgesprochen hilfreich ist, dass jedem Kapitel eine knapp gehaltene Vorschau über den Kapitelinhalt vorangestellt ist, die auch visuell in Form eines Kastens schnell als Orientierungshilfe erkennbar ist. Am Ende jedes Kapitels finden sich vertiefende Literaturhinweise, die insbesondere für die Studierenden Ansatzpunkte zum eigenständigen Weiterlesen bieten. Abgerundet werden die Kapitel mit Denkanstößen und für Studierende zumeist recht anspruchsvollen weiterführenden Fragen zum jeweiligen Kapitelinhalt, die in der Regel am Kapitelende, manchmal jedoch auch am Ende eines Teilkapitels platziert sind.
Leider ist das Buch in formaler Hinsicht nicht unbedingt beispielhaft: Teilweise wird zu nachlässig mit Literaturangaben umgegangen – bei Zitaten fehlen des Öfteren Seitenzahlen, zwischen Autor/-innen und Herausgeber/-innen wird nicht immer sauber unterschieden, manchmal werden die Referenzen überhaupt nicht angegeben –, sprachlich werden Singular und Plural nicht immer treffsicher verwendet, und manche Sätze sind unvollständig.
An den Anfang ihrer „Spurensuche“ (S. 7) nach der soziologischen Erforschung von Geschlecht stellen die Autorinnen eine Herleitung des heutigen Geschlechtermodells aus den sozialen und wissenschaftlichen Entwicklungen im Europa des 18. Jahrhunderts sowie eine Vorstellung der ersten „Großentwürfe“ (S. 22) einer eigenständigen Wissenschaft von der Gesellschaft (Kapitel 2). Die Anfänge der Soziologie orientierten sich zum Teil noch eng am naturwissenschaftlichen Denken, dem Geschlecht oder gar der Geschlechtertrennung wurde noch kein eigener theoretischer Stellenwert beigemessen. Dies änderte sich mit Entfaltung der Soziologie als eigenständige Disziplin, denn diese fiel mit der ersten Frauenbewegung zusammen, wurde jedoch durch den Nationalsozialismus jäh unterbrochen und dann nach dem Zweiten Weltkrieg neu aufgenommen (Kapitel 3).
Zeitgleich beginnt in der US-amerikanischen Soziologie die Karriere des auch im deutschsprachigen Raum bis heute theoretisch einflussreichen Begriffs der ‚Geschlechtsrolle‘ zur Erklärung der funktional notwendigen Geschlechtertrennung in der Familie. Daneben tauchen in ebenfalls erstarkenden interpretativen Theorieansätzen prozess- und wissensorientierte Denkweisen auf, die den Boden für sozialkonstruktivistische Auffassungen von Geschlecht bereiten (Kapitel 4). Die Entstehung einer soziologischen Frauen- und Geschlechterforschung im Zuge der zweiten Frauenbewegung erscheint in der Darstellung von Gildemeister und Hericks in gewisser Weise als Neuerfindung des Rades, von deren Gestus eines Neubeginns und einer Bezugnahme auf die soziale Bewegung der Frauen sich die beiden Autorinnen distanzieren, auch weil hier in erster Linie die Geschlechterdifferenz zur Grundlage der soziologischen Analysen gemacht wurde (Kapitel 5). Die „Rezeption und Fortschreibung der soziologischen Theorietraditionen, in denen und mit denen es möglich ist, ‚Geschlecht als Gegenstand‘ mit soziologischen Mitteln zu erforschen“ (S. 187), wurde in dieser als feministische Soziologie bezeichneten Forschung nicht vorangetrieben, so das Zwischenfazit (Kapitel 6).
Folglich dienen die verbleibenden Kapitel der Suche nach soziologischen Ansätzen, mit denen dieses Desiderat angegangen werden könnte. Den Einstieg bildet die Problematisierung der Zweigeschlechtlichkeit im Zuge konstruktivistischer und diskurstheoretischer Ansätze (Kapitel 7), wobei letztere als „keine originär soziologischen Herangehensweisen“ (S. 207) bezeichnet werden. Auch die in den 1990er Jahren in der deutschsprachigen soziologischen Geschlechterforschung begonnenen Anschlüsse an neuere soziologische Theorien – vorgestellt werden die Theorien von Elias, Bourdieu, Giddens und Luhmann – verbleiben nach Gildemeister und Hericks noch zu sehr einem Denken der Geschlechterdifferenz, der damit verbundenen Analyse der sozialen Ungleichheit und folglich der Ebene der Geschlechterverhältnisse verhaftet, statt dass konstruktivistische Ansätze weiterentwickelt würden (Kapitel 8). Wie diese Weiterentwicklung aussehen könnte, skizzieren die Autorinnen unter dem Stichwort der „Vergeschlechtlichung sozialer Wirklichkeit“ (S. 260) abschließend. Dabei argumentieren sie, dass auch ein „Aussetzen der Geschlechterunterscheidung“ (S. 305) im Zuge eines undoing gender möglich sei (Kapitel 9).
Uneingeschränkt zu begrüßen ist, dass sich die vorliegende Einführung in die Geschlechtersoziologie der Herausforderung stellt, das vielfältige Geschlechterwissen soziologischer Theorien ordnend zu bündeln. Insofern bahnen Gildemeister und Hericks mit ihrem Buch nicht nur einen möglichen Weg durch den Dschungel soziologischer Theorien zu Geschlecht, sondern bieten auch eine Fülle von Anregungen zum Weiterlesen. Insbesondere die Studierenden, an die sich das Lehrbuch ja hauptsächlich richtet, finden hier vielfältige Orientierungshilfen und Anknüpfungspunkte.
Die These der Autorinnen, dass es Aufgabe einer Geschlechtersoziologie sei, die Arten und Weisen der Geschlechterdifferenzierung in soziologischen Theorien zu analysieren, statt (lediglich) die Geschlechterdifferenz zu beschreiben und so zu affirmieren, wird durchgängig und konsequent im Buch verfolgt. Trotz der hierfür erforderlichen argumentativen Schärfung der eigenen Position wäre ein etwas stärker wertschätzender Umgang mit anderen Denkansätzen und -positionen insbesondere von Kolleginnen wünschenswert, auch hinsichtlich der Weiterführung der ansonsten sorgfältig referierten soziologischen Theorien der zumeist männlichen Kollegen.
Eigentümlich starr wirkt die immer wieder erfolgende Anrufung des vermeintlich originär Soziologischen, das im Buch als werturteilsfrei und nahezu durchweg nur von Theoretikern entwickelt erscheint. Möglicherweise ist die Geschlechtersoziologie ja doch noch keine so selbstverständliche weitere spezielle Soziologie und die Analyse der Geschlechterdifferenz auch in der Wissenschaft noch nicht so überholt, wie das Buch mit Fokus auf die Geschlechterdifferenzierung zu vermitteln versucht.
Prof. Dr. Heike Kahlert
Ludwig-Maximilians-Universität München
Institut für Soziologie, Lehrstuhlvertretung für Soziologie mit dem Schwerpunkt Soziale Entwicklungen und Strukturen
Homepage: http://www.heike-kahlert.de
E-Mail: heike.kahlert@soziologie.uni-muenchen.de
(Die Angaben zur Person beziehen sich auf den Stand zum Veröffentlichungsdatum.)
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