Eine Gesellschaftstheorie der Pornographie

Rezension von Nina Schumacher

Sven Lewandowski:

Die Pornographie der Gesellschaft.

Beobachtungen eines populärkulturellen Phänomens.

Bielefeld: transcript Verlag 2012.

313 Seiten, ISBN 978-3-8376-2134-1, € 29,80

Abstract: Sven Lewandowski versucht mittels der ungewöhnlichen Kombination von Psychoanalyse und Systemtheorie der Relevanz pornographischer Inhalte innerhalb der Gegenwartsgesellschaft nachzuspüren. Neben dem Internetphänomen der Amateurpornographie untersucht er dabei aus soziologischer und medienanalytisch informierter Perspektive Geschlechterverhältnisse, ‚Perversionen‘ und andere Erscheinungen des Pornographischen. Lewandowski wagt sich damit unter Zuhilfenahme einer der abstraktesten Theorien der Wissenschaftslandschaft an eines ihrer emotionalisiertesten und randständigsten Themen. Hierdurch gelingt es ihm, einen gehörigen Abstand zwischen das Alltagsphänomen Porno und dessen theoretische Betrachtung zu bringen, er entfernt sich damit aber gleichzeitig in gewisser Weise von seinem Gegenstand.

Der Titel täuscht

Wenn Lesende eine primär systemtheoretische Betrachtung des Pornographischen erwarten, wie es der an zahlreiche Werke Niklas Luhmanns angelehnte Titel des Buches mehr als nur vage andeutet, werden sie direkt beim ersten Blick in das Inhaltsverzeichnis überrascht. In den ersten drei umfangreichen Analyse-Kapiteln werden neben dem systemtheoretischen ebenfalls ein psychoanalytischer Zugang sowie einige Perspektiven der Internetforschung vorgestellt. Erst dann wird der Grundgedanke formuliert, die Pornographie sei eine Art der Selbstbeschreibung der Sexualität unserer Gesellschaft und von daher systemtheoretisch als eigenständiges gesellschaftliches Subsystem zu betrachten, bevor der Autor in zwei abschließenden Kapiteln seine Einschätzungen zur (künftigen) Entwicklung der Pornographie darstellt.

Diese systemtheoretische Perspektive lässt sich dabei als symptomatisch lesen für die große gesamtgesellschaftliche Relevanz, die Lewandowski der Pornographie zugesteht. Mit der Betrachtung von Pornographie als gesellschaftlichem Subsystem reiht sich die Untersuchung überdies ein in eine mittlerweile große Anzahl von systemtheoretischen Analysen, in denen unterschiedliche Phänomene als eigenständiges Funktionssystem neben der Politik, der Wirtschaft, dem Recht, der Wissenschaft usw. betrachtet werden. Was genau Pornographie in der vorliegenden Analyse bezeichnen soll, erfahren die Lesenden allerdings erst ab Seite 90, davor muss die „an sich triviale Feststellung“ (S. 7) genügen, dass es Pornographie gibt. Zwar wird im weiteren Verlauf der Einleitung deutlich, dass im Buch nicht die moralische Frage – im Sinne des erhobenen Zeigefingers – abgehandelt wird, ob es Pornographie geben sollte, sondern dass es um die gesellschaftstheoretische Untersuchung eines populärkulturellen, weil massenhaft vorhandenen Phänomens geht. Trotzdem bleibt zunächst unklar, wo Pornographie für den Autor beginnt – bei nackten Brüsten im Stil von Janet Jacksons ‚Nipple Gate‘-Fauxpas beim Super Bowl 2004 oder bei expliziten Filmaufnahmen kopulierender Geschlechtsteile?

Pornographieforschung – da war doch schon mal etwas…?

Lewandowskis vielschichtige Argumentation, deren Beweglichkeit bereits durch die Auswahl der unterschiedlichen disziplinären Perspektiven unterstrichen wird, bleibt dennoch bisweilen eigentümlich heteronorm. So glaubt er beispielsweise im Analverkehr die Dekonstruktion des Weiblichen erkennen zu können, da er „diejenige sexuell besetzte Körperöffnung, die Männern und Frauen gemeinsam ist“ (S. 63), vorziehe. Hierin verortet er eine Erniedrigung des Weiblichen, die schlimmer fast gar nicht sein könne, da sie vorführe, „dass die Frau als Frau eigentlich gar nicht gebraucht“ werde (S. 64). Abgesehen von der sehr zerstörerischen und nicht unbedingt passenden Lesart als Destruktion ist die hier implizite Verortung der weiblichen Identität im Organ Vagina sicher denkbar weit vom Gedankengang des Dekonstruktivismus entfernt. Dass darüber hinaus Lebewesen existieren, die ebenfalls über eine rektale Körperöffnung verfügen, aber weder als Mann noch als Frau lesbar werden (und die in Pornos durchaus sichtbar sind), scheint für den Autor nicht relevant zu sein.

Außerdem bleibt Lewandowski mit seiner Kritik an feministischen Pornographie-Betrachtungen (queere Perspektiven werden gar nicht weiter einbezogen), diese würden den Porno als grundlegend frauenfeindlich ansehen, einige Jahre hinter den aktuellen Strömungen der Porn Studies zurück. Zwar finden sich einige einschlägige Texte der Porn und Gender Studies im Literaturverzeichnis, aber für seine Analyse spielen diese nur eine untergeordnete Rolle. In diesem Sinne ist es denn auch nicht weiter verwunderlich, dass der Autor an diversen Stellen ohne Hinweise auf weitere Autor_innen auskommt, sich aber dicht an deren Gedankengängen entlang hangelt. So nutzt er z. B. das Konzept der phallischen Frau, das Filmtheoretikerin Laura Mulvey schon in den 1970er Jahren zur Charakterisierung der Frau im Kinofilm entwickelte, ohne auf Mulvey zu rekurrieren, oder auch das pornographische Primat der extrakorporalen Ejakulation, das Linda Williams in ihrer wegbereitenden Analyse Hard Core ausführlich darlegt.

Bedingte Geschlechtersensibilität

Positiv hervorzuheben ist, dass Lewandowski, obwohl er mit Stoller, Freud und Luhmann in wesentlichem Maße auf Theoretiker rekurriert, deren Augenmerk mit Sicherheit nicht in der Analyse der Ungerechtigkeit von Geschlechterverhältnissen lag, abgesehen von einigen Widersprüchen und trotz der vorgebrachten Einwände eine tiefgehende Betrachtung der geschlechtlichen Machtverhältnisse im Porno liefert. Er erläutert schlüssig, weshalb die feministische Betrachtung, Frau seien in Pornofilmen die einzigen ausschließlich zur ‚Benutzung‘ vorhandenen Sexobjekte, nicht zutrifft. Die fehlende Individualisierung betreffe mindestens im selben Maße auch Männer, deren Gesichter in entsprechenden Filmen noch bedeutend seltener gezeigt würden als die weiblicher Personen, was letztlich nur die prinzipielle „Austauschbarkeit der gezeigten Personen“ vor Augen führe (S. 48). Identifikationsfolie des männlichen Betrachters sei letztlich, wie Lewandowski sowohl soziologisch als auch medienanalytisch überzeugend darstellt, weder der gezeigte Mann noch die gezeigte Frau, sondern vielmehr die sexuelle Handlung selbst. Dass – weibliche Schaulüste am Porno vollkommen ignorierend – eingestreut in die unterschiedlichsten Kapitel ‚die Frau‘ immer wieder als Opfer pornographischer Unterdrückungsmechanismen markiert wird, lässt jedoch gerade bei diesem geschlechterpolitisch brisanten Themenkomplex erneut eine stärkere Einbeziehung aktueller Forschungsergebnisse vermissen.

…und die Moral von der Geschichte?

Der Argumentation mangelt es an Sensibilität hinsichtlich Ausgrenzungsmechanismen, was sich auch in der Behauptung zeigt, „Pornotopia“ sei inzwischen real geworden, das heißt, die Pornographie habe ihre vormals gesellschaftsgefährdende Funktion verloren und damit ihre eigene Ausdifferenzierung zum Subsystem ermöglicht. Obwohl Lewandowski diese Aussagen makrosoziologisch durchaus plausibel macht, indem er beispielsweise auf die grundsätzliche, aus deren Steigerungslogik resultierende Amoralität sozialer Systeme hinweist, verkennt er doch – durchaus in der Tradition der großen Erzählung ‚Systemtheorie‘ – kleinteiligere gesellschaftliche Phänomene. Abgesehen von der allzu offensichtlichen Altersfreigabe ab 18 (ob diese sinnvoll ist oder nicht, sei hier dahingestellt), bleibt die Analyse vor allem blind gegenüber solchen Sexualitäten und deren Darstellbarkeit, die im Porno zwar ab und an vorkommen, die realiter aber noch immer keineswegs als intelligibel gelten. Eine schier unendliche Fülle von sexuellen Optionen, wie sie Lewandowski postuliert (S. 246), ist damit zweifelhaft.

Schließlich bleibt unklar, bis zu welchem Grad Lewandowski die von ihm erkannten Muster überhaupt als auf die Sexualität der Gesellschaft übertragbar betrachtet. Zwar betont er immer wieder, dass sich diese nicht in der Pornographie der Gesellschaft erschöpfe – worin sie aber jenseits deren Grenzen besteht, bleibt offen. So nüchtern insbesondere die systemtheoretische Betrachtung Lewandowskis ist und so sehr es ihm damit gelingt, die Eigenlogik des Pornographischen fern jeglicher Emotionalisierungen zu beschreiben, so wenig Spielraum lässt seine Perspektive nolens volens für Abweichungen und Brüche. Zu verdanken ist dem Autor jedoch damit eine bislang unerreicht distanzierte Beschreibung pornographischer Produkte. Dadurch wird größtenteils der aufgekratzt anklagende Duktus vermieden, der vielen Auseinandersetzungen mit diesem Thema eigen ist. Der These, dass die soziale Relevanz des bildlich dargestellten Sexuellen derart hoch ist, dass sich daraus eine Gesellschaftstheorie des Pornographischen generieren lässt, muss allerdings nicht unbedingt zugestimmt werden.

Nina Schumacher

Philipps-Universität Marburg

Projektkoordinatorin im Büro der Frauenbeauftragten

E-Mail: nina.schumacher@gmx.net

(Die Angaben zur Person beziehen sich auf den Stand zum Veröffentlichungsdatum.)

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