Aktuelle Forschungen zu Intersektionalität

Rezension von Sabine Stange

Vera Kallenberg, Jennifer Meyer, Johanna M. Müller (Hg.):

Intersectionality und Kritik.

Neue Perspektiven für alte Fragen.

Wiesbaden: Springer VS 2013.

286 Seiten, ISBN 978-3-531-17726-7, € 39,95

Abstract: Die Attraktivität dieses mehrsprachigen und multidisziplinären Tagungsbandes liegt darin, dass neben theoretischen Überlegungen auch empirische Studien vorgestellt werden, die mit Bezug auf Intersektionalität breit gestreute Themen beleuchten. In den Blick genommen werden z. B. Prostitution und Menschenhandel, frühneuzeitliche Gerichtsverfahren, französische Aktivistinnen und Aktivisten oder die post-koloniale Gesellschaft Tahitis. Hierbei werden nicht nur anglophone, sondern auch französischsprachige Debatten aufgegriffen. Eine weitere Besonderheit liegt darin, dass überwiegend Beiträge des wissenschaftlichen Nachwuchses versammelt sind. Die Fokussierung auf Intersektionalität und Kritik schließt an kontroverse Einschätzungen der Intersektionalitätsdebatte an.

Intersektionalität als kritische Perspektive?

Zwanzig Jahre nach Kimberlé Crenshaws nachhaltiger Prägung des Begriffs intersectionality fand 2009 in Paris eine von Promovierenden ausgerichtete internationale und interdisziplinäre Nachwuchstagung zu Perspektiven der Intersektionalitätsforschung statt. Einen Großteil der Tagungsbeiträge haben die Veranstalterinnen Vera Kallenberg, Jennifer Meyer und Johanna M. Müller nun mit einer Akzentuierung auf den Zusammenhang von Intersektionalität und Kritik veröffentlicht, wobei sie darunter sowohl kritische Auseinandersetzungen mit als auch das kritische Potential von Intersektionalität verstehen. In ihrem einleitenden englischsprachigen Beitrag erörtern die Herausgeberinnen einerseits die Hauptstränge der deutschsprachigen Intersektionalitätskritik rund um Beschränkungen auf die Mikroebene, den Einsatz von statischen Identitätskonzepten und die damit einhergehende Essentialismusfalle (S. 23), die eingeschränkte Aussagekraft der Kreuzungsmetapher (S. 24) und die mangelnde Kontextualisierung von Kategorien (S. 25 f.). Andererseits stellen sie in den Raum, dass durch die Intersektionalitätsdebatte das Nachdenken über das Verhältnis von Forschung und Kritik ebenso angeregt werde wie die Reflexion der Standortgebundenheit der Forschenden und der eingesetzten Methoden. Des Weiteren liefere Intersektionalität Denkanstöße für eine kritische Gesellschaftstheorie (S. 27). Der Einschätzung der Herausgeberinnen, dass das Kritikpotential von Intersektionalität jedoch nicht per se höher ist als bei anderen Ansätzen oder Methoden, sondern vom jeweiligen Forschungskontext abhängt, würde ich zustimmen, ebenso wie ihrer Feststellung, dass angesichts der Entwicklungen der letzten Jahre Crenshaws Bild der Kreuzung (intersection) als Teil einer umfassenderen Perspektive auf Ungleichheit und Differenz zu verstehen ist, die aufgrund der vielschichtigen interdisziplinären Diskussion kaum noch umrissen werden kann. Dieser Facettenreichtum spiegelt sich auch in den vorliegenden Beiträgen wider.

Da bekanntermaßen den ausführlichen theoretischen Debatten immer noch ein Desiderat an empirischen Studien mit intersektionalem Ansatz gegenübersteht, werde ich im Folgenden weniger auf die theoretisch orientierten Beiträge des Bandes als vielmehr auf die vorgestellten empirischen Forschungen eingehen.

Intersektionalität zwischen Wissenschaft und Politik

Als Einstieg in diesen Themenkomplex wirft Cornelia Möser (Berlin) die Frage des politischen Impetus universitärer feministischer Forschung in Zeiten des Bologna-Prozesses auf. Sie entwickelt in Bezug auf die Diskussionen um die Auswirkungen der Einführung von gender auf feministische Forschungen ein „Differenzierungs-“, ein „Verfalls-“ und ein „Versöhnungs- bzw. Überwindungsnarrativ“ und deutet Parallelen zur Debatte um intersectionality an.

Die Soziologin Irene Pereira (Paris) analysiert vor dem Hintergrund französischer feministischer Ansätze von Christine Delphy, Elsa Dorlin und Danièle Kergoat die Standpunkte von Mitgliedern einer kleineren linken Organisation namens Alternative Libertaire, in der sie selbst aktiv mitarbeitet, zum Verhältnis von classe, race und sexe. Anhand von Debatten anlässlich eines Kongresses sowie von Vorbereitungen zum Internationalen Frauentag und zu einer Gay Pride-Veranstaltung untersucht sie Äußerungen, die sich vor allem auf marxistische und feministische Theorien in einem politischen Umfeld beziehen. Es wird sichtbar, dass das Spannungsfeld zwischen als autonom gedachten Systemen wie Kapitalismus oder Patriarchat und deren Interdependenzen, die sich in ihren jeweiligen Auswirkungen auf Individuen widerspiegeln, in der untersuchten Organisation Fragen zur Bündnispolitik aufwirft. Nach Einschätzung der Autorin stoßen bestimmte intersektionale Theorien in diesem Kontext ebenso wie feministische linke Ansätze (féminisme luttes de classe, féminisme radical matérialiste) an Grenzen.

Demgegenüber verstehen Sara Diaz, Rebecca Clark Mane und Martha González (Washington) Intersektionalität explizit als Instrument zur Förderung sozialer Gerechtigkeit. Es gelingt ihnen, das spezifische Potential einer intersektionalen Perspektive zur Erfassung von komplexen Konstellationen herauszustellen, indem sie anhand eigener Studien, u. a. zu unterschiedlich akzentuierten Biographien der afroamerikanischen Naturwissenschaftlerin R. A. Young sowie zu feministischen Interpretationen von Videodarstellungen der Popsängerinnen Fergie und Gwen Stefani, die blinden Flecken einseitig feministischer bzw. antirassistischer Perspektiven aufdecken.

Empirische und methodologische Herausforderungen

Skeptisch sehen Andrea Griesebner und Susanne Hehenberger (Wien) den Gedanken der Intersektionalität, insbesondere wenn diesem ein statisches Identitätskonzept und isolierte, ahistorische Kategorien zugrunde liegen. Sie unterscheiden unter Berufung auf Brubaker und Cooper zwischen relationaler, in Beziehungsgeflechten eingebetteter Positionierung und der Identifikation aufgrund von kategorialen Attributen (S. 121) und fordern mit der Erarbeitung von Kategorien aus dem jeweiligen Zeithorizont deren Historisierung ein. Im Kontext der Strafverfolgung von Inzest im katholischen Österreich des 18. Jahrhunderts filtern sie aus den überlieferten Gerichtsakten die relationale Position der Angeklagten in einem, in Anlehnung an Bourdieu als mehrdimensional gedachten, sozialen Raum als für die Strafbemessung wesentliches Unterscheidungsmerkmal heraus. Als relevante Kriterien hierfür benennen sie soziales Kapital (Verwandte, Freunde, Pfarrer als Fürsprecher), die Reaktion des jeweiligen sozialen Umfelds (Familie, dörfliche Gemeinschaft), den bisherigen Lebenswandel der Angeklagten und – aus heutiger Sicht ungewohnt – die Realisierbarkeit eines Eheversprechens vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Regelungen.

Bezogen auf die Gegenwart fragt Laura Schuft (Nizza) im aktuellen postkolonialen Kontext Tahitis auf der Basis von Interviews mit sogenannten ethnisch gemischten Paaren (polynesisch-französisch / europäisch-französisch) nach der diskursiven (Re-)Produktion von gesellschaftlichen Hierarchien insbesondere in Bezug auf ethnische Zugehörigkeit und Geschlecht und fächert vielfältige Verschachtelungen (imbrications) auf. Aus den Interviewaussagen polynesischer Frauen arbeitet sie u. a. eine spezielle Binnendifferenzierung in der Sichtweise auf Männer polynesischen Ursprungs heraus, in welcher die zunächst ethnisch konnotierte Zuschreibung demi (halb) an Bildungsstand und Lebensstil geknüpft ist. Hier zeigt sich eindrücklich die kontextspezifische Verwobenheit mehrerer Differenzlinien, also genau das, was nach meinem Verständnis mit einer intersektionalen Perspektive erfasst werden soll.

Vielfältige Verflechtungen geschlechtsbezogener und rassistischer Zuschreibungen kristallisieren sich auch in der detailreichen Untersuchung von Christine Whyte (Zürich) heraus, die ihr Augenmerk auf Diskurse und Regelungen zu Prostitution und white slavery am Beginn des 20. Jahrhunderts im kolonialen Kontext des britischen Empire richtet.

Joshua Dubrow (Warschau) schließlich plädiert nicht nur für die vermehrte Nutzung des Potentials intersektionaler Ansätze in quantitativen Analysen, sondern spielt dies am Beispiel einer Auswertung von Daten des European Social Survey auch durch.

Theoretische Reflexionen

In den theoretisch orientierten Beiträgen, die im dritten Teil des Bandes zusammengefasst sind, werden verschiedenste Aspekte der Intersektionalitätsdebatte aufgegriffen. Thomas Beaubreuil (Paris) zeichnet ein Bild der sozialwissenschaftlichen Debatten der letzten Jahre über die Verknüpfung von sozialen Variablen in Frankreich. Christine Kley (Berlin) vergleicht die Konzeption von Herrschaft und Macht in Texten der Gesellschaftstheoretikerin Gudrun-Axeli Knapp und der Philosophin Amy Allen. Dimitri Mader (Berlin) setzt sich mit der Agency-Theorie der britischen Soziologin Margaret S. Archer auseinander und entwirft vier Varianten, wie sich Überkreuzungen von Klasse und Geschlecht auf Handlungssituationen auswirken könnten. Pia Garske (Berlin) fragt u. a. nach dem herrschaftskritischen Potential von Intersektionalität in Verbindung mit dem Stellenwert der Kategorie Klasse, während Jana Tschurenev (Zürich) aus der Perspektive der Globalgeschichte eine Erweiterung des Blicks auf globale Vernetzungen vorschlägt, die europäische Gesellschaften mitformen.

Fazit

Der Band gewährt anregende Einblicke in die Vielgestaltigkeit aktueller Forschungsarbeiten, darunter Dissertationen und Diplomarbeiten, in einem heterogenen Forschungsfeld. In Ergänzung zu bereits vorliegenden Sammelbänden zu Intersektionalität eröffnen die Herausgeberinnen überdies eine Perspektive auf französische Debatten und beziehen verstärkt geschichtswissenschaftliche Untersuchungen und Überlegungen mit ein. Die Auseinandersetzung mit der Kritik an Intersektionalität und dem kritischen Potential des Konzeptes findet in den Beiträgen in unterschiedlicher Intensität und mit unterschiedlichen Einschätzungen statt.

Unabhängig davon manifestiert sich aufgrund der Verortung der präsentierten Studien in verschiedenartigen zeitlichen und geographischen Konstellationen eindrücklich die zentrale Bedeutung der Kontextualisierung für die angemessene Erfassung von Differenz und Ungleichheit. An den ausgewählten Untersuchungskontexten mag es liegen, dass in den vorgestellten Studien überwiegend die Kategorien der inzwischen traditionellen Triade race (la race, l’origine/l’appartenance ethnique), class (la classe, le statut/la position socioéconomique) und gender (le sexe, le genre) aufgerufen werden. In den meisten Fällen bleibt allerdings die spannende Frage offen, inwieweit diese Differenzlinien vorab gesetzt oder aus dem untersuchten Material erarbeitet wurden. Lediglich die Frühneuzeithistorikerinnen Griesebner und Hehenberger gehen in ihrem Beitrag explizit davon aus, dass relevante Unterscheidungsprinzipien für den jeweiligen Untersuchungskontext erst zu erforschen seien. Nicht zuletzt hier zeigen sich die Herausforderungen der Vielschichtigkeit und Unbestimmtheit von intersektionalen Ansätzen für konkrete empirische Studien.

Sabine Stange, M.A.

Universität Kassel

Fachbereich Humanwissenschaften; Wissenschaftliche Koordinatorin im interdisziplinären ZFF-Forschungsschwerpunkt „Ungleichheiten in Geschlechterverhältnissen“

E-Mail: sabinestange@uni-kassel.de

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