Zur Aktualität von Biomachtanalytik in der Geschlechterforschung

Rezension von Pat Treusch

Eva Sänger, Malaika Rödel (Hg.):

Biopolitik und Geschlecht.

Zur Regulierung des Lebendigen.

Münster: Verlag Westfälisches Dampfboot 2012.

286 Seiten, ISBN 978-3-89691-235-0, € 29,90

Abstract: Das Konzept der Biopolitik als Machtmechanik politischer Techniken des Regiert-Werdens und des Sich-Selbst-Regierens erscheint prädestiniert, um das gesellschaftliche Potential lebenswissenschaftlicher Innovationen und Möglichkeiten auszuloten. Dementsprechend wird in dem Band die Gouvernementalität von Biopolitiken aus geschlechtertheoretischer Perspektive entlang gesellschaftlich aktueller Themen, anhand derer sich biopolitische Machttechniken artikulieren, analysiert. Damit werden nicht nur zentrale gesellschaftliche Themen aufgegriffen, sondern ebenso die queere und feministische Theoriebildung konzeptuell bereichert.

Mit dem Konzept der Biopolitik hat Michel Foucault eine spezifisch moderne Machtform analysierbar gemacht, in der das Lebendige zum Gegenstand politischer Strategien wird. Lebensprozesse wie Generativität, Altern, Krankheit und Tod sowie deren unmittelbare körperliche Erfahrung erscheinen kontrollier- und optimierbar. Jene Reg(ul)ierung des Lebendigen ist eine gouvernementale, das bedeutet, sie besteht aus einem Set von biopolitischen Machtwirkungsweisen, das Techniken der Selbst- und Fremdregierung umschließt. Biotechnologische und -medizinische Innovationsbemühungen einer geradezu ‚biokapitalistischen‘ Gegenwart – um einen Begriff von Kaushik Sunder Rajan zu benutzen – sprechen dafür, das Konzept der Biopolitik für die Untersuchung gesellschaftlicher Phänomene analytisch fruchtbar zu machen. Hier setzt der Sammelband an, und zwar im Zuschnitt einer systematischen Bezugnahme auf Geschlecht und Sexualität (vgl. S. 10). Die beiden Herausgeberinnen Eva Sänger und Malaika Rödel verweisen auf eine „Leerstelle“ (S. 7) zwischen Biopolitik- und Geschlechterforschung und suchen daher nach Schnittstellen von Biomachtanalytik nach Foucault mit queerer und feministischer Kritik an naturalisierten Herrschaftsverhältnissen.

Diese Zusammenführung ist durchaus nicht neu, sondern baut auf eine queere und feministische Tradition in poststrukturalistischer Theoriebildung auf. Jedoch ergibt sich den Herausgeberinnen folgend in den vorliegenden Verbindungen ein analytischer Neugewinn daraus, dass „Wirkungen und materielle Effekte von Machttechnologien auf der Ebene vergeschlechtlichter Subjekte, der Bevölkerung und von Mikropraktiken der Grenzziehung in den Blick“ (S. 13) kommen. In den Beiträgen des dreigeteilten Bandes wird dies durchweg plastisch.

Wertsetzungen von Leben

Im ersten Abschnitt zeichnet beispielsweise Caroline Arni die Machttechnologien des Pränatalen als „biopolitisches Dispositiv“ (S. 56) nach. Das Pränatale konstituiere die „Prekarität des Werdens“ (S. 61), welche eine „Responsibilisierung“ (S. 60) Schwangerer bewirke. Diese wiederum stelle einen Handlungsimperativ dar, in welchem sich die Biographien von Fötus und Mutter überlappen, aber nicht ineinander auflösen. So arbeitet sie motherhood als vergeschlechtlichte, verkörperte Subjektposition im Kontext der biopolitischen Spezifik einer Anrufung zukünftiger Bevölkerung in Form vulnerabiler Föten heraus. Kurzum erweist sich hier das biomachtanalytische Instrumentarium als produktiv, um komplexe Verhältnissetzungen zwischen Schwangeren und Föten in ihren materiellen Effekten zu untersuchen.

Susanne Lettow diskutiert den Lebensbegriff in politisch-philosophischer Theoriebildung. Dieser sei vitalistisch eingefärbt und setze Leben als unmittelbar, was die Analyse von Geschlechterverhältnissen blockiere. Die Autorin eröffnet eine Verbindung zwischen Biomachtanalytik und Ansätzen des „neuen Materialismus“ (S. 28), indem sie „materiell-naturhafte Beziehungsgeflecht[e]“ in den Blick nimmt, in denen „Menschen, nicht-menschliche Lebewesen und belebte Naturstoffe agieren“ (S. 41). An diesem Beitrag zeigt sich die Qualität des Bandes, die Leser/-innen zu weiterführenden Diskussionen einzuladen. Lettow leistet über die Herleitung gesellschaftlich situierter Beziehungsgeflechte bioökonomischer Gegenwart einen konzeptionellen Beitrag, um die materiellen Effekte von Biomachttechnologien nicht vitalistisch zu erfassen. Damit interveniert sie nicht nur in die Blockade Vitalismus (vgl. S. 27), sondern nimmt auch eine theoretische Aktualisierung vor, welche anvisiert, feministische Theoriebildung aus „Sackgassen“ (S. 28) zu führen.

Bevölkerungspolitiken

Auch in der von Susanne Schultz herausgearbeiteten intersektionalen Verschränkung gesellschaftlicher Ordnungsmuster auf biopolitischer Mikro- und Makoebene wird der analytische Gewinn der Biomachtanalytik für die Geschlechterforschung sehr plastisch. Die Autorin untersucht, welche biopolitischen Wirkungen es hat, Kinderbekommen zum „demografischen Ziel“ (S. 123) zu erklären. Dieses Ziel arbeite mit Anreizen, welche intersektional operieren, also entlang vergeschlechtlichter, klassistischer und rassistischer gesellschaftlicher Ordnungsmuster. Die demographische Anrufung der kinderlosen Akademikerinnen (vgl. S. 112) blende auf biopolitischer Makroebene Geschlechterverhältnisse sowie alle Frauen außer Akademikerinnen aus (vgl. S. 124) und sei auf Mikroebene als „Erfüllungsgehilfin individueller Wünsche“ (S. 123) angelegt. Mica Wirtz gelingt eine innovative Querverbindung zwischen der Debatte um das Recht auf Abtreibung und Diskursen um Adipositas entlang des feministischen Slogans: ‚Mein Bauch gehört mir!‘. Sie versteht feministische Forderungen nach Selbstbestimmung über den eigenen Körper als Intervention in einen „biopolitischen Nexus von Wissen und Macht sowie das Verhältnis von privat, öffentlich und politisch“ (S. 176), und will entlang dieser Forderungen aktuelle Biopolitiken, in denen der Bauch der/des Übergewichtigen zum bevölkerungspolitisch relevanten Gesundheitsproblem deklariert wird, untersuchen. Ebenso anschaulich arbeitet Sabine Hess das komplexe Verhältnis von Menschenrechtsdiskursen, Feminismen und Kolonialismen in ihren materiellen Effekten heraus. Anhand aktueller Anti-Trafficking-Politiken verbindet sie Biomachtanalytik und Geschlechterforschung, um „feminationalistische Politiken“ (S. 147) in den Blick zu bekommen, und bietet so zudem wichtige Ansatzpunkte, der Dienstbarmachung feministischer Diskurse innerhalb europäischer Migrationspolitiken entgegenzutreten.

Sexualitätsdispositive

Im dritten Teil des Bandes steht das „Terrain von Kämpfen“ (S. 251) um die geschlechtlich-sexuelle Zurichtung von Körpern (Sexualitätsdispositive) im Zentrum. So werden die „bioästhetische Gouvernementalität“ (S. 209) eines Fitnessgürtels (Bublitz) sowie die medizinisch-rechtlichen Biopolitisierungen von Intersex (Klöppel) und von Transsexualität (Schirmer) analysiert. Uta Schirmer unterstreicht Möglichkeiten der „geschlechtlichen Selbstbestimmung“ (S. 263), die auf eine Gestaltbarkeit entgegen „zweigeschlechtlicher Normierung“ (S. 253) auf individueller und kollektiver Ebene verweisen. Vielversprechend in diesem Beitrag sowie in dem von Ulrike Klöppel ist nicht nur die Verschränkung normierender mit normalisierenden Machttechniken in den Feldern Trans- und Intersex, sondern auch, dass konkrete Ansatzpunkte der Ermächtigung gegenüber diesen diskutiert werden. Im Beitrag von Klöppel wird zudem das analytische Instrumentarium der „Biomachttechniken“ (S. 222) greifbar gemacht und begrifflich präzise am Gegenstand der Intersex-Medizin angewendet. Hier beweist der Band seine grundständige, einführende Qualität. Mike Laufenberg wiederum nimmt sich erkenntnistheoretischen Verkürzungen (vgl. S. 269) an, um das Biologische als sozialwissenschaftlichen Analysegegenstand für queere Kritik an naturalisierten Herrschaftsverhältnissen neu zu erschließen. Das Konzept eines „queeren Materialismus“ (S. 283) einführend zielt auch Laufenbergs Beitrag in der Verbindung von Biomachtanalytik und Geschlechterforschung darauf, weiterführende Theoriebildung zu leisten.

Fazit

In Biopolitik und Geschlecht wird die von den Herausgeberinnen diagnostizierte Leerstelle nicht nur anvisiert, sondern es werden tatsächlich vielfältige Aktualisierungen der Zusammenführung der genannten Theorieansätze geboten. Die Autor/-innen untersuchen aktuelle biotechnologische Wissensproduktionen und Innovationsbestreben auf deren Bedeutungen für die Bewertung von Leben und die Erfahrung von Körperlichkeit. Diese Bewertungen und auch Erfahrungen werden dabei als Formen der Kontrolle des Lebendigen mit Bezug auf Vergeschlechtlichungen, Sexuierungen, Klassifizierungen sowie Rassifizierungen erfasst. Der Wert des Bandes liegt darin, dass über die thematische Breite sowohl einführende als auch weiterführende Beiträge versammelt sind. Dabei wird über die ‚bloße‘, wenn auch anschauliche Anwendung des Konzepts der Biopolitik innerhalb der Geschlechterforschung hinausgegangen: Mehrfach werden Ansatzpunkte gezeigt, Auswege aus Sackgassen und Verkürzungen innerhalb feministischer und queerer Forschung zu finden sowie in Prozesse der Instrumentalisierung von feministischer und queerer Kritik an gesellschaftlichen Phänomenen im Horizont einer biokapitalistischen Gegenwart zu intervenieren.

Pat Treusch

Technische Universität Berlin

PhD-Studentin am Zentrum für Interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung, Technische Universität Berlin; Stipendiatin des Graduiertenkollegs „Geschlecht als Wissenskategorie“, Humboldt-Universität zu Berlin

E-Mail: pat_treusch@yahoo.com

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