Hilge Landweer, Catherine Newmark, Christine Kley, Simone Miller (Hg.):
Philosophie und die Potenziale der Gender Studies.
Peripherie und Zentrum im Feld der Theorie.
Bielefeld: transcript Verlag 2012.
346 Seiten, ISBN 978-3-8376-2152-5, € 29,80
Abstract: Können die akademischen Disziplinen Gender Studies und Philosophie voneinander profitieren? Die am vorliegenden Sammelband Beteiligten bejahen diese Frage eindeutig und sind der Überzeugung, dass hier ein erhebliches – größtenteils noch unausgeschöpftes – Potential liegt, dessen Facettenreichtum bei der Lektüre des Buches tatsächlich sehr anschaulich wird. Gerade aufgrund der Fülle der bearbeiteten Fragestellungen hätte allerdings eine deutlicher inhaltlich-systematisch angelegte Struktur dem Band gutgetan. Doch liefert er durch Anregungen zu vielfältigen Reflexionen über konkret-inhaltliche und wissenschaftstheoretische Fragen und deutliche Akzentsetzungen für die Weiterentwicklung feministischer Theorie nicht nur den Beweis des Potentials der Gender Studies für die Philosophie, vielmehr wird die Inspirationskraft auch in umgekehrter Richtung deutlich.
Bei dem vorliegenden Band handelt es sich teilweise um den Abdruck einer Vortragsreihe, die unter dem gleichnamigen Titel im Sommersemester 2011 an der Freien Universität Berlin stattfand. Die Herausgeberinnen und Autor_innen nähern sich dem Verhältnis zwischen Philosophie und Gender Studies vor dem metaphorischen Deutungshorizont von Zentrum und Peripherie. Eine periphere Lage lässt sich laut den Herausgeberinnen dabei in zweierlei Hinsicht feststellen: Einerseits finde sich die Philosophie − einst (im Selbstverständnis) Königsdisziplin der Wissenschaft − zunehmend an den Rand akademischer und gesellschaftlicher Bedeutung gedrängt. Im Rahmen der (institutionalisierten) Philosophie selbst aber habe sich, trotz der zunehmenden Präsenz der Gender Studies im akademischen Bereich, die Marginalisierung geschlechtertheoretischer Fragestellungen erfolgreich bis in die Gegenwart erhalten. Dementsprechend soll der vorliegende Band dazu beitragen, dass „sowohl feministische Theorien in der Philosophie Raum bekommen, als auch umgekehrt die Philosophie für die Genderstudies fruchtbar gemacht werden kann – und so auch ein Stück gesellschaftliche Relevanz zurückgewinnt“ (S. 9).
Es lassen sich, grob unterteilt, zwei Perspektivierungsweisen ermitteln, unter denen sich die verschiedenen Autor_innen des Bandes mit der oben beschriebenen „räumlichen“ Relationalität zwischen (Mainstream-)Philosophie und diversen Theorienströmungen im Feld der Gender Studies auseinandersetzen. Die hier vorgeschlagene Unterscheidung dieser beiden Perspektiven dient in erster Linie der Systematisierbarkeit der in dem Band abgebildeten Debatten und Argumente – ein Anspruch, der in der Vielfältigkeit der Beiträge, ohne eine gliedernde Struktur, leider ein wenig untergeht. Die meisten unter ihnen sind doppelperspektivisch angelegt, betonen jedoch zumeist eine oder mehrere Frage- und Problemstellungen, die sich den beiden unterschiedlichen Zugangsweisen zuordnen lassen.
Eine erste Perspektive zielt auf das gegenseitige inhaltliche Befruchtungspotential von Gender Studies und Philosophie. Hierunter wird die Frage verhandelt, welche Begriffe und Themen zusätzlich oder in spezifischer Weise in das Blickfeld zentraler oder peripherer wissenschaftlicher Auseinandersetzungen in beiden Disziplinen geraten, wenn Erkenntnisse der jeweils anderen Disziplin zur Kenntnis genommen werden. Dazu tragen vor allem die Beiträge von Eva von Redecker, Miranda Fricker, Mari Mikkola, Simone Miller, Herta Nagl-Docekal und Saskia Wendel bei.
Eine zweite Betrachtungsweise fokussiert auf wissen(schaft)stheoretische und methodologische Fragestellungen. Welches Befruchtungspotential für die Tätigkeit des Philosophierens im akademischen Kontext entwickelt sich hier durch eine Befassung mit wissenschaftstheoretischen Axiomen aus der Genderforschung? Und welche Gewinne ergeben sich umgekehrt, z. B. mithilfe von originär im philosophischen Diskurs angesiedelter epistemologischer Grundlagenforschung, für die Schärfung und Absicherung einer wissenschaftstheoretisch legitimierten Position in den Gender Studies? Zu diesen und anderen Fragen finden sich Anregungen in den Aufsätzen von Amy Allen, Patricia Purtschert, Susanne Lettow, Hilge Landweer/Catherine Newmark, Astrid Deuber-Mankowsky, Sigridur Thorgeirsdottir, Frieder Otto Wolf und Teresa Orozcos.
In vielen Beiträgen erfolgt zudem eine Auseinandersetzung mit dem Verhältnis zwischen institutioneller Philosophie und den zunächst außerhalb der Akademie, inzwischen aber auch institutionalisiert betriebenen Gender Studies. Hierzu liegen sowohl wissenschaftshistorische Betrachtungen als auch analytische Besichtigungen des aktuellen Zustands dieser Beziehung vor (v. a. zu nennen sind hier die Beiträge von Wolf, Thorgeirsdottir und Deuber-Mankowsky).
Worüber wäre also − auch und gerade aus feministischer Perspektive – (wieder) einmal nachzudenken? Im vorliegenden Band finden sich hierzu Anregungen in einer beeindruckenden Vielfältigkeit. Eva von Redecker beispielsweise verfolgt mit ihrem Beitrag „Feministische Strategie und Revolution“ das Ziel, das Verhältnis von Revolution und Utopie theoretisch begründet umzukehren. Sie kritisiert das sogenannte revolutionstheoretische „Übergangs- oder Umbruchsdilemma“ in seinen verschiedenen Facetten. Dieses ergibt sich aus der ‚klassischen‘ Revolutionstheorien zugrundeliegenden Prämisse, dass erst nach der Revolution die utopisch imaginierten gesellschaftlichen Zustände folgen (S. 21). Dagegen schlägt von Redecker ein Modell vor, das – im Sinne Gustav Landauers und später beispielsweise auch Ernst Blochs – die Utopie in der gesellschaftlichen Gegenwart verortet und Revolution nicht als „Ursprung, sondern Effekt einer Kumulation von diversen erfolgreichen utopischen Vorgriffen versteht“ (S. 31). So äußert sich utopisches Potential, also das, was der Mensch ist und sein kann, im Entwurf des Individuums als freiem Subjekt in die Welt. Und erst aus der Vielfältigkeit dieser Entwürfe entsteht etwas „Neues“, gegebenenfalls mit revolutionären Zügen.
Miranda Fricker knüpft in ihrem Beitrag unter dem Titel „Schweigen und institutionelle Vorurteile“ an den realen Vorfall der Ermordung eines schwarzen Jugendlichen an, der im April 1993 von einer Gang weißer Jugendlicher im Londoner Stadtbezirk Greenwich im Beisein eines Freundes tödlich verletzt wurde. Anhand dieses offensichtlich rassistisch motivierten Verbrechens und der anschließenden mangelhaft betriebenen Aufklärung durch die Polizei entwickelt die Autorin als Gegenentwurf das Ideal einer „testimonialen Gerechtigkeit“, das sie methodologisch als in feministischer Theoriebildung verwurzelt betrachtet (S. 85). Die Verbindung dazu stellt laut Fricker das „Standpunkttheorem“ dar, das besagt, „dass wir den Blickwinkel derjenigen auf der Verliererseite einnehmen müssen, wenn wir ein umfassendes Verständnis von menschlichen Praktiken, sozialen Phänomenen und Beziehungsmustern erlangen wollen“ (S. 64). Das Ideal der „testimonialen Gerechtigkeit“ fordert, dass einem Menschen in Absehung von seinem sozialen Status, seiner Hautfarbe und anderen Zuschreibungen sowie unter Reflexion der eigenen Vorurteile aufmerksam zugehört werden müsse. Fricker buchstabiert diesen Anspruch sowohl unter epistemologischen, ethischen als auch politischen Aspekten aus und erweitert damit das gängige philosophische Verständnis testimonialer Akte (S. 83).
Ebenfalls abgeleitet aus einem verbrecherischen Phänomen – der Vergewaltigung – entwickelt Mari Mikkola in ihrem Beitrag „Der Begriff der Entmenschlichung und seine Rolle in der feministischen Philosophie“ ein Plädoyer für den Humanismus als theoretischen und strategischen Bezugspunkt feministischer Theorie und Praxis. Sie setzt sich dabei zunächst mit dem Problem auseinander, dem eine humanistische Argumentation scheinbar unentrinnbar ausgeliefert ist: nämlich erst einmal normativ zu definieren, was denn eigentlich „human“, was also „der Mensch“ sei. Mikkolas Ziel ist es infolgedessen, einen Begriff der Entmenschlichung zu entwickeln, der, auch im feministischen Sinne, in der Lage ist, Kriterien der Kritik an gesellschaftlichen Phänomenen an die Hand zu geben, aber dennoch nicht von vornherein verbindlich das „Menschliche“ als ontologisch-normative Größe bestimmt (S. 91). Bemerkenswert ist dabei vor allem, dass die Autorin – sehr bewusst − auf zwei Prämissen zurückgreift, die erstens stark im gesellschaftlichen Alltagsverständnis verwurzelt sind und zweitens explizit gegen (im Sinne von ‚post-post‘) die Diskursivierung materieller Körper gerichtet zu sein scheinen, wie sie im Zeichen des cultural turn vor allem in feministischen Diskursen in Mode gekommen sind: Ihre Prämissen lauten, dass a) ein zeitgemäßer und die Fallen der ontologischen Normativität umgehender Begriff der „Entmenschlichung“ auf dem Fundament eines Konzeptes stehen müsse, „das die biologische (kursiv M.D.) Art Mensch bezeichnet, so wie wir diese Art gemeinhin im Alltag verstehen“ (S. 90), und b), dass Vergewaltigung ein paradigmatischer Fall der Verletzung von Individuen eben dieser biologischen Art sei (ebd.). Der Beweisführung für diese zweite Annahme widmet sich ein großer Teil von Mikkolas Beitrag, in dem sie letztlich Folgendes als Definition von „Entmenschlichung“ vorschlägt: „Eine Handlung oder Behandlung ist genau dann entmenschlichend, wenn sie legitime menschliche Interessen auf unverzeihliche Weise übergeht und dieses Übergehen von Interessen eine moralische Verletzung begründet.“ (S. 107)
Während Mikkola bestrebt ist, Einwänden gegen diese explizit gender-neutrale Verfassung von „Entmenschlichung“ im Rahmen ihres Artikels selbst zu begegnen, findet sich im Beitrag „Der Streit um die feministische Utopie, oder: Warum Selbstbestimmung?“ von Simone Miller eine direkte Kritik an dieser Gender-Neutralität: „Ein Ansatz, der keine theoretischen Ressourcen dafür besitzt, die Spezifik geschlechtlicher und vergeschlechtlicher Erfahrung und Praxis einzufangen, verliert sein feministisches Profil. […] Möchte sich der Ansatz vor drohender Blindheit bewahren, muss er notgedrungen auf das Geschlecht seiner Interessengruppe Bezug nehmen und zwar auf theoretisch informierte Weise“ (S. 121). Miller bekundet hiermit ihr Unbehagen darüber, die theoretische Reflexion über Geschlecht ausschließlich durch eine alltagsweltlich orientierte praktische Ethik zu ersetzen – eine Tendenz, die, nicht zuletzt (auch bei Mikkola), einer gewissen Frustration über die scheinbare Unlösbarkeit des Sex-Gender-Dilemmas im Rahmen feministischer Theorie- und Strategieentwicklung entspringt. Sie plädiert stattdessen für die Beibehaltung der Sex-Gender-Annahme, die sie um den Bezug auf das Konzept der „Selbstbestimmung“ zu erweitern vorschlägt, um damit deren oftmals attestierte normative Leere zu kompensieren und sie für feministische Kritik fruchtbarer zu machen. Nachdem die Gründlichkeit, mit der die Debatte zwischen den von Miller „realistisch" und „nominalistisch“ – im sozialwissenschaftlichen Fachjargon würde hier wohl stattdessen von materialistischen und konstruktivistischen Perspektiven gesprochen werden – genannten Positionen diskutiert wird, zunächst aufgrund ihrer scheinbaren Überholtheit irritiert, erschließt sich jedoch bald der Mehrwert dieser ganz grundlegenden Auseinandersetzung: So wird aus der von der Autorin geleisteten Diskussion der beiden unterschiedlichen Konzepte sehr anschaulich klar, worin aus epistemischer Sicht, d. h. aufgrund der im nominalistischen Theorem selbst konstitutiv eingelagerten Denkbedingungen, die Gründe der Anfälligkeit dieser Position für die ihr allerseits − oftmals nicht weiter begründet − attestierte postmoderne „Beliebigkeit“ liegen.
Das gründliche Nachvollziehen von in anderen Disziplinen bereits (mit oder ohne befriedigenden Erkenntnisgewinn) für ausdiskutiert erklärten theoretischen Auseinandersetzungen scheint mir ohnehin ein positives Merkmal dieses Sammelbandes – und vielleicht auch insgesamt von (feministischer) Philosophie – zu sein. In diesem Sinne geht auch Herta Nagl-Docekal in ihrem Aufsatz „Feministische Philosophie im postfeministischen Kontext“ vor, wenn sie ebenfalls die Entwicklung in der Sex-Gender-Debatte präzise nachzeichnet und in diesem Zusammenhang ‚klassische‘ philosophische Prüfkriterien wie die Analyse naturalistischer Fehlschlüsse in Anschlag bringt (S. 239). Auch mit anderen Feldern der ‚klassischen‘ Philosophie sieht sie wichtige Fragen feministischer Theoriebildung unmittelbar verknüpft: Dies betrifft Rechtsphilosophie und Politische Theorie, Sozialphilosophie, Ästhetik sowie Moral- und Geschichtsphilosophie. Insbesondere im letzten Feld sieht Nagl-Docekal hochaktuellen Theoretisierungsbedarf in Hinsicht auf genuin die feministische Theorie und Praxis betreffende Fragestellungen − beispielsweise zu Begriffen wie Liebe, Solidarität, Religiosität/Glaube und Familie (S. 247 ff.).
Unter dem Titel „Subjekt statt Substanz. Entwurf einer gender-sensiblen Anthropologie“ beschäftigt sich auch Saskia Wendel begrifflich akribisch mit einer Auseinandersetzung schon älteren Datums: Es geht ihr darum, Probleme einer „radikalkonstruktivistischen Gender-Theorie“ (S. 322) herauszuarbeiten, die in der Folge von Judith Butlers in Gender Trouble entwickeltem Ansatz gegen eine „substanzontologische Anthropologie“ (ebd.) in Stellung gebracht wurden. Diesen „essentialistischen“ Theorien müsse aber laut Wendel keineswegs ein ausschließlich diskursiv bestimmtes Verständnis von Körper und Begehren entgegengesetzt werden, das oftmals mit einer Verabschiedung des Subjektes einhergehe. Vielmehr plädiert sie in Anlehnung an die existenzialistische Philosophie für eine Beibehaltung des Subjekt-Begriffs zwar nicht im Sinne einer subjektiven „Substanz“, aber gleichwohl als „Perspektive“ des „Zur-Welt-Seins“ des Daseins (vgl. S. 319 f., 323, 327).
In Bezug auf die Frage, an welche Methodologien des ‚Denkens‘ eine feministisch inspirierte Philosophie anknüpfen könnte, durchziehen diverse Beiträge des Bandes einige Gemeinsamkeiten. Viele der Autor_innen verweisen in diesem Zusammenhang auf das Theorem von der sozialen Situiertheit des Denkens, Wissens und Sprechens, das (zum Teil explizit) als aus der feministischen Theoriebildung stammend verortet wird (vgl. z. B. Thorgeirsdottir, S. 255 ff.; Allen, S. 57). Susanne Lettow weist darauf hin, dass dieses Theorem gerade für die Philosophie eine besondere Herausforderung bedeute, verstehe diese sich doch „zum größten Teil noch immer als eine Disziplin, deren Fragestellungen, Theorien und Begriffe einer geschlechtertheoretischen Betrachtung enthoben sind, da diese sich auf einer Abstraktionsebene bewegen, die sich gerade dadurch auszeichnet, dass sie von den kontingenten Gegebenheiten des Alltagslebens, der Geschichte und der Gesellschaft absieht“ (S. 163), – und zwar sowohl, so ist anzunehmen, was die philosophischen Inhalte angeht, als auch bezogen auf das ‚Subjekt‘ des Philosophierens.
Für einen explizit engeren Bezug zur lebensweltlichen Empirie plädieren gegen diese Ausrichtung Hilge Landweer und Catherine Newmark. Sie stellen in ihrem Beitrag „Diesseits und jenseits von Gender. Zum problematischen Verhältnis der Philosophie zu Empirie und Lebenswelt“ die These auf, dass die weitgehende Abstinenz in Bezug auf die Theoretisierung − oftmals kontigenter − lebensweltlicher Erfahrung „in einer versteckten Beziehung zum Mangel an innovativen Theorien einerseits und zum Ausschluss der Genderstudies aus der Philosophie andererseits“ führe (S. 187). Am Beispiel von Beauvoir, Butler und Foucault führen die Autorinnen vor, dass es gerade die empirisch/lebensweltlich inspirierten Denker_innen seien, die originelle und innovative Akzente in der Theoriebildung der letzten Jahrzehnte gesetzt haben. Schließlich warnen sie die eigene Disziplin ausdrücklich vor dem wissenstheoretischen Anspruch, neue philosophische „Großtheorien“ zu entwerfen (S. 204). Stattdessen sehen sie die Philosophie der Zukunft – und diese Einschätzung wird ebenfalls von vielen der Autor_innen des Bandes geteilt – explizit in einer dezentrierten Position innerhalb diverser interdisziplinärer Zusammenhänge (vgl. auch Allen, S. 56; Lettow, S. 178 f.).
Philosophie werde durch feministische Interventionen über ihre eigenen epistemologischen Grenzen hinweggetrieben, wie Astrid Deuber-Mankowsky in ihrem Artikel „Philosophie außer sich! Gender, Geschlecht, Queer, Kritik und Sexualität“ argumentiert, sie gerate eben sprichwörtlich „außer sich“. Feministisch inspirierte Philosophie, die sich auszeichne durch beständiges Agieren an den äußersten Grenzen des philosophisch als ‚relevant‘ Anerkannten, beruhe eben durch diese Situierung ohnehin auf einem Selbstverständnis als dezentriert, peripher und damit forschungspragmatisch auch offen für den interdisziplinären Austausch. Dass eine solche Selbstverortung an den äußersten Grenzen des ‚Anerkannten‘ im Rahmen feministischer Philosophie jedoch nicht gegen die kritische Vernunft als Kriterium wissenschaftlicher Theoriebildung in Anschlag gebracht werden dürfe, dafür argumentiert Amy Allen in ihrem Beitrag „Gender, Macht, Vernunft. Feminismus und Kritische Theorie“. Die Orientierung an Vernunft müsse vielmehr im Sinne einer kritikfähigen Perspektive beibehalten werden, zentral sei allerdings, dass eine „unversöhnliche Spannung“ zwischen dieser „Vernunft“ und den gesellschaftlichen Machtverhältnissen theorieimmanent anerkannt werde (S. 56 f.).
Was aber kann nun die Philosophie in wissenschaftstheoretischer Hinsicht zu dem Austausch zwischen den Disziplinen beisteuern? Als „Wegbegleiterin“ (S. 177) theoretischen Denkens erschließt sich ihre Qualifikation anschaulich u. a. am Beispiel der Beiträge von Patricia Purtschert und Teresa Orozco im vorliegenden Band. Die philosophische Begleitung zeichnet sich in beiden Fällen durch ein epistemologisches Interesse aus – einmal, im Falle von Orozco, bezogen auf die in der feministischen Theoriebildung zwar vielfach rezipierte, aber nicht originär aus ihr stammende dekonstruktivistische Denkweise im Sinne Derridas, bei Purtschert hingegen auf die gründliche Rekonstruktion der feministischen ‚Gretchenfrage‘: Gerechtigkeit versus Normierungskritik, oder anders: Gleichheit versus Differenz.
Getragen ist die Analyse in beiden Fällen von einem de-ontologisierenden Erkenntnisinteresse. So legt Orozco in kritischer Absicht dar, wie beispielsweise das in einen dekonstruktiven Zusammenhang gestellte Theorem von der „männlichen Verbrüderung“ in den Schriften Derridas unter der Hand zum ontologisch begründeten „Gesetz“ avanciert (S. 309). Und Purtschert verweist in ihrem Beitrag darauf, dass der Streit um die ‚richtige‘ feministische Kritik sich letztlich nicht im Sinne einer ontologischen letzten Wahrheit – über das, was das Objekt feministischer Theorie und Praxis sei, – entscheiden lasse. Vielmehr zeigt ihre Analyse detailliert auf, dass die unterschiedlichen Kritikzugänge letztlich in unvereinbaren epistemologischen Voraussetzungen begründet liegen, die sich eben aus diesem Grunde auch nicht auflösen lassen werden (S. 141 f., S. 159). Beide Autorinnen tragen damit zu einer Offenhaltung und Innovationsfähigkeit (nicht nur) feministischer Theoriebildung bei. Ihre Beiträge zeigen, dass es lohnenswert sein kann, längst für überholt geglaubte theoretische Debatten noch einmal im Detail zu betrachten, um die zentralen, in den jeweiligen epistemischen Voraussetzungen angelegten Knackpunkte herauszuarbeiten und damit auch die Basis für eine dem theoretischen Gegenstand gerecht werdende Auseinandersetzung mit sich widersprechenden Positionen zu bereiten.
Insgesamt betrachtet liefert der Band den Befund, dass die Philosophie von einer Beschäftigung mit den Gender Studies sowohl inhaltlich als auch methodologisch profitieren kann. In umgekehrter Richtung scheint sich der Transfer eher auf theoriereflektierenden und analytisch-methodischen Ebenen des Denkens zu bewegen. Das erscheint mir aber in der Bilanz keinesfalls weniger wert, hilft es doch, den Blick für bestimmte Problemstellungen in beispielsweise epistemologischer Hinsicht überhaupt erst zu schärfen. Damit kann eine philosophische Betrachtung nicht zuletzt einen wichtigen Beitrag dazu leisten, die Reflektion wissenschaftstheoretischer Ansprüche der Gender Studies abzusichern.
Mit der Feststellung der Konzentration feministisch inspirierter Philosophie auf epistemologische Fragen ließe sich womöglich erklären, dass sich eine wechselseitige Attraktivität von Philosophie und Gender Studies aktuell vor allem im Feld ‚postmoderner‘ Theoriebildung mit ihrer starken oder ausschließlichen Fokussierung auf das ‚Wie‘ von Wissens- und Diskursgenerierung verorten lässt. Der vorliegende Band aber weist über diese positive Anknüpfung an diskursanalytische Theoriepositionen deutlich hinaus. Es scheint mir beispielweise bemerkenswert, wie stark die Beitragssammlung durchzogen ist von direkten oder indirekten Verweisen auf das (neu oder wieder?) zu entdeckende Potential existenzphilosophischer Denkweisen und Denkinhalte (vgl. hierzu z. B. die Beiträge von Wolf, Thorgeirsdottir, Landweer/Newmark, Wendel). Hier werden in einem sehr fruchtbaren Sinne Impulse aus normkritischen, dezentrierenden und dekonstruierenden Perspektiven aufgenommen und im Interesse einer ‚Wiederbelebung‘ des Subjekts über sich hinaus entwickelt. Und nicht zuletzt in diesem Punkt zeigt sich ebenfalls ein wegweisendes Potential der Philosophie für die Gender Studies – diesmal vor allem für ihre eher sozialwissenschaftlichen Varianten, die an der Auflösung des Subjektes in postmoderne Diskurse vor dem Hintergrund eigener Erkenntnisinteressen teilweise schwerer zu ‚knabbern‘ hatten.
Mirjam Dierkes, M.A.
Justus-Liebig-Universität Gießen
Arbeitsstelle Gender Studies, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungsprojekt „Männer zwischen Erwerbstätigkeit und Pflege“
Homepage: http://www.uni-marburg.de/fb03/genderkolleg/stips/dierkes_kurzbio
E-Mail: mirjam.dierkes@sowi.uni-giessen.de
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