Catherine M. Orr, Ann Braithwaite, Diane Lichtenstein (Eds.):
Rethinking Women’s and Gender Studies.
London: Routledge 2012.
376 Seiten, ISBN 978-0-415-80831-6, € 47,99
Abstract: Der Sammelband von Catherine M. Orr, Ann Braithwaite und Diane Lichtenstein bietet eine aktuelle Auseinandersetzung mit den zentralen Konzepten der Selbst-/Zuschreibung in den Women’s and Gender Studies (WGS) im Kontext der gegenwärtigen Umstrukturierung der Universitäten – wie z. B. Methoden, Pädagogik, Community, Disziplin und Institutionalisierung. Dabei wird zum einen ein genealogischer Zugang gewählt, um die Funktionsweise dieser Konzepte aufzuzeigen, und zum anderen werden durch Selbstreflexion der Autor_innen auf ihre eigene Lehre und Position innerhalb der WGS Änderungsvorschläge eingebracht, um potentiell neue Richtungen für die Frauen- und Geschlechterforschung aufzuzeigen.
Ziel der Herausgeberinnen des vorliegenden Sammelbandes ist eine kritische Auseinandersetzung mit der Verortung und Etablierung der Women’s and Gender Studies (WGS) als Studienfach innerhalb des Wissenschaftsbetriebs der USA. In den Beiträgen, die nach thematischen Schwerpunkten in fünf Kapitel eingeteilt sind, werden zentrale Schlüsselkonzepte der WGS reflektiert und erörtert.
So diskutieren Layli Mapayran „Feminismus“, Diane Lichtenstein „Interdisziplinarität“, Katherine Side „Methoden“ und Susanne Luhmann „Pädagogik“ unter dem Gesichtspunkt, wie fundamental diese Konzepte als Bestandteil der WGS angesehen werden und welche Effekte sie hervorrufen. Catherine M. Orr reflektiert über „Aktivismus“, Astrid Henry über die „Wave-Metapher“, Alison Piepmeiner über die Rede von der ständigen Bedrohung der WGS von außen und Martha McCaughey über die Wichtigkeit einer eigenständigen Community; dabei setzen die Autorinnen sich damit auseinander, welche Wirkungen diese Faktoren für die Selbstbeschreibung und Zuschreibung für die WGS bisher hatten und in Zukunft haben werden oder welche blinden Flecke damit auch einhergehen. Unter „Epistemologies Rethought“ erörtern Vivan M. May das Konzept der „Intersektionalität“, Scott Lauria Morgensen „Identität und Identitätspolitik“ und Jennifer Purvis „Queer“; sie fragen danach, wie sich Epistemologien innerhalb der WGS verändern müssen, wenn diese Konzepte ernst genommen werden und nicht nur Lippenbekenntnisse sein sollen. In „Silences and Disavowals“ werden die Konzepte „Disziplin“, „Geschichte“, „Säkularität“ und „Sexualität“ von Ann Braithwaite, Wendy Kolmar, Karlyn Crowley und Merri Lisa Johnson unter dem Gesichtspunkt kritisch beleuchtet, was genau passiert, wenn diese Konzepte verleugnet und aus der Diskussion ausgeschlossen werden oder wenn Stillschweigen über sie herrscht. Im letzten Kapitel fordern die Autor_innen Bobby Noble, Aimee Carrillo Rowe und Laura Parisi sich selbst und die Leser_innen dazu auf, die Konzepte „Trans-“, „Institutionalisierung“ und „Transnationalisierung“ als Teil der WGS zu überdenken und die Folgen einer Anpassung an oder Abgrenzung gegenüber diesen Konzepten zu reflektieren. Dabei stellen die Autor_innen sich vor allem die Frage, welche Ausschlussmechanismen durch eine Abgrenzung weiter perpetuiert werden.
In den Beträgen des Sammelbands werden dabei nicht nur die Diskussionen und Debatten um die verschiedenen Schlüsselkonzepte und Schwerpunkte zusammengefasst, sondern diese darüber hinaus mit dem Ziel analysiert, aufzuzeigen, wie die genannten Konzepte innerhalb der WGS verstanden werden, wie sie von den Wissenschafter_innen benutzt werden, welche Rolle sie bei der Produktion von Wissen spielen bzw. was überhaupt als Wissen gelten kann und welchen Einfluss dieses Wissen auf das (Selbst-)Verständnis der WGS hat.
So konstatiert Layli Maparyan zum Beispiel im Beitrag „Feminismus“, dass feministische Theorie als fundamental und selbstverständlich angesehen wird und dabei die Definition und Anwendung wichtiger als die Hinterfragung ist. Dies wirke sich dahingehend aus, dass zu viel Energie auf die Diskussion von Definitionen innerhalb der Theorien verwendet werde und dabei der Fokus auf die Veränderung des Sozialen verloren gehe. Ein weiterer Effekt sei außerdem, dass sowohl Verknüpfungen zu und Gemeinsamkeiten mit anderen kritischen Theorien als auch Verschränkungen von Gender mit verschiedenen Differenzkategorien wie Race, Schichtzugehörigkeit, Sexualität, Religion oder Dis_Ability an den Rand gedrängt werden, obwohl deren Wichtigkeit an-/erkannt wird. Dies hat innerhalb des Wissenschaftsbetriebs laut Maparyan zur Konsequenz, dass viele potentielle Student_innen abgeschreckt werden und nur ein minimaler Anteil von weißen, weiblichen und heterosexuellen Student_innen sich angesprochen fühlt, da die Komplexität und Verflochtenheit von Macht und Unterdrückungsmechanismen auf Gender reduziert werden bzw. Gender als zentral gesetzt wird. Die Autorin fragt im Anschluss daran, was geschehen würde, wenn andere Konzepte wie womanism zentral als Teil des Selbstverständnisses der WGS gesetzt werden würden, und arbeitet heraus, welche andere Art von Wissen damit produziert werden könnte.
Neben der genealogischen Arbeit zeichnet sich die Herangehensweise im vorliegenden Sammelband außerdem durch die Schwerpunktlegung auf Selbst-/Reflexion aus, indem sich die Autor_innen innerhalb der WGS verorten und nicht nur eine Reflexion der Konzepte, sondern auch ihrer selbst vornehmen, um im Anschluss an jeden der fünf Schwerpunkte der Leser_in die Möglichkeit der Selbstreflexion durch Abschlussfragen in Form von Points to Ponder zu geben. Damit reiht sich dieser Sammelband nicht nur in eine WGS-Tradition – mit Beginn in den 1980er Jahren – ein, bei der weiße, heterosexuelle und weibliche Feminist_innen auf deren Ausschlussmechanismen und Unterdrückungsstrukturen aufmerksam gemacht wurden, sondern gleichzeitig werden die vorgestellten Konzepte auf Aktualität überprüft und die Leser_in mit einbezogen und zur eigenen Selbstreflexion aufgefordert.
Besonders interessant ist Susanne Luhmanns Beitrag über die Reflexion ihrer eigenen Lehrpraxis Die Autorin erörtert die Wichtigkeit und Bedeutung des Konzepts der Pädagogik in den WGS, dabei fragt sie sich und die Leser_in, ob eine Identifikation der Student_innen mit der Dozent_in heute noch als zentral angesehen kann bzw. gefördert werden soll? Wenn sich die WGS immer mehr gegenüber anderen Differenzkategorien öffnen und eine Vielzahl verschiedener Student_innen ansprechen möchten, muss dieses Konzept der Identifikation mit der Dozent_in oder als Feminist_in vielleicht aufgegeben werden. Auch die Lernziele und die Feststellung, wenn oder ob diese erreicht wurden, würden sich dadurch ändern.
Der Sammelband wird seinen Ansprüchen durchaus gerecht: In der Kontextualisierung durch die Herausgeber_innen wird versucht, die eigene Schwerpunktlegung in der Auswahl der besprochenen Konzepte zu rechtfertigen, und die eigenen Ausschlussmechanismen werden mitbedacht. Grundlegende Prämissen der WGS wie Feminismus, Aktivismus und Community werden hinterfragt, und es wird erörtert, inwiefern eine Setzung von anderen Konzepten das Verständnis von WGS verändern könnte. Dass der Fokus dabei auf WGS im US-amerikanischen Umfeld liegt, macht die inneren Mechanismen im dortigen Wissenschaftsbetrieb sichtbar. Doch ist dies darüber hinaus in einigen Fällen auch für die deutschsprachigen WGS interessant. So lassen sich die Diskussion darüber, ob die WGS als eigene wissenschaftliche Disziplin oder nur als Bestandteil einzelner anderer akademischer Disziplinen etabliert werden sollen und was das jeweils für Auswirkungen haben könnte, sowie die Beiträge zur Zentralität der feministischen Theorie, zur Methodologie oder zu Pädagogik auch auf den deutschsprachigen Kontext anwenden. Trotz der Publikation ähnlicher Sammelbände wie Troubling Women’s Studies von Ann Braithwaite, Susan Herald, Susanne Luhmann und Sharon Rosenberg (2004) oder Women’s Studies for the Future von Elizabeth Kennedy und Agatha Beins (2005) setzt sich der hier rezensierte Sammelband durch die Bandbreite der Schwerpunktsetzung und der zentralen Konzepte wie Feminismus, Pädagogik, Aktivismus etc. sowie in seiner Aktualität durch Einbezug von Transgender Studies und Säkularität ab.
Dabei ist die Publikation dank des einfachen Zugangs durch die Kontextualisierung der Herausgerinnen und Autor_innen nicht nur für etablierte Wissenschaftler_innen geeignet, obwohl sich der Sammelband an diese richtet, sondern auch für Student_innen lesbar und in Seminaren einsetzbar.
Braithwaite, Ann/Herald, Susan/Luhmann, Susanne/Rosenberg, Sharon. (2004). Troubling Women’s Studies. Toronto: Sumach Press.
Kennedy, Elizabeth/Beins, Agatha. (2005). Women’s Studies for the Future. New Brunswick: Rutgers University Press.
Jennifer Bühner, Dipl.Soz.
Eberhard Karls Universität Tübingen
Englisches Seminar, Abteilung Amerikanistik, Wissenschaftliche Mitarbeiter_in
Homepage: http://jenniferbuehner.wordpress.com
E-Mail: jennifer.buehner@uni-tuebingen.de
(Die Angaben zur Person beziehen sich auf den Stand zum Veröffentlichungsdatum.)
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