Erna Appelt, Brigitte Aulenbacher, Angelika Wetterer (Hg.):
Gesellschaft.
Feministische Krisendiagnosen.
Münster: Verlag Westfälisches Dampfboot 2013.
268 Seiten, ISBN 978-3-89691-237-4, € 27,90
Abstract: Der von Erna Appelt, Brigitte Aulenbacher und Angelika Wetterer herausgegebene Sammelband zielt auf eine feministische Analyse und Kritik der gegenwärtigen gesellschaftlichen Entwicklung, die in aktuellen Zeitdiagnosen häufig als krisenhaft beschrieben wird. In zwölf Beiträgen von sozial-, politik- und geschlechterwissenschaftlich ausgewiesenen Autor/-innen werden Krisen bezüglich der gesellschaftlichen Naturverhältnisse, Lebenssorge und Ökonomie, Öffentlichkeit und Privatheit sowie Normierungen und Ideologien bearbeitet und durch eine Einleitung der Herausgeberinnen in Bezug zueinander gesetzt. Die Aufsätze sind durchweg anregend und bereichernd für die gegenwärtigen zeitdiagnostischen Debatten, könnten jedoch zum Teil begrifflich und empirisch präziser und argumentativ etwas gründlicher sein.
Zweifelsohne ist es derzeit insbesondere in den Sozial- und Politikwissenschaften wieder en vogue, sich zum Zustand ‚der Gesellschaft‘ zu äußern, und zwar in diagnostischer, häufig auch kritischer Absicht. Dabei geraten so unterschiedliche Phänomene wie Klimawandel, Ausbreitung der neuen Informations- und Kommunikationstechnologien, Wandel der Familie und der Lebensformen, Finanzmarktkrise, Erosion des Normalarbeitsverhältnisses und demographischer Wandel in den Fokus des diagnostischen und/oder kritischen Blicks. Perspektiven der Frauen- und Geschlechterforschung auf die vermeintlich neuen Krisendynamiken und -phänomene sind im vielstimmigen Konzert der um sich greifenden Krisendiagnosen bisher eher rar.
An dieser Leerstelle setzt der hier zu besprechende Sammelband an, den Erna Appelt, Brigitte Aulenbacher und Angelika Wetterer vieldeutig, aber offen betitelt haben. Die „Ungleichgewichte im Krisendiskurs“ (S. 7) gaben laut den Herausgeberinnen, die alle drei an österreichischen Universitäten Soziologie oder Politikwissenschaft mit Gender-Fokus lehren, den Anstoß für das Buchprojekt. Es ist ihr Bestreben, „dem feministischen Blick auf die gesellschaftliche Entwicklung und der entsprechenden Deutung der Zeichen Raum“ (S. 9) zu geben, wobei hier zwar ein allumfassender feministischer Blick behauptet wird, sich dieser jedoch ebenfalls als mit blinden Flecken, auf die noch eingegangen wird, versehen herausstellt. Das Ziel der Herausgeberinnen ist vor allem ein gesellschaftsdiagnostisches, wobei Krisen Appelt, Aulenbacher und Wetterer zufolge durchaus „Kritik beförder[n] oder dies zumindest tun könnte[n]“ (S. 7).
Die im Buch gesammelten zwölf Aufsätze von namhaften Autor/-innen vornehmlich aus Deutschland und Österreich sind in vier Abschnitte gegliedert. Der Aufbau der ersten drei Abschnitte folgt dem Schema, je zunächst einen „grundlegenden Beitrag wissenschaftsgeschichtlicher oder theoretischer Art“ (S. 9) zu präsentieren, dann die Krisendiagnose in das Zentrum zu rücken und schließlich den Blick auf die internationale Entwicklung zu lenken. Im vierten Abschnitt, in dem die „Krise des Feminismus“ (S. 9) behandelt wird, wird von diesem Schema abgewichen.
„Gesellschaftliche Naturverhältnisse“ stehen im Mittelpunkt des ersten Abschnitts. Elvira Scheich beschäftigt sich einleitend mit international bedeutenden Stationen feministischer Interventionen in die wissenschaftliche und politische Befassung mit ökologischen Krisen. Während dazu deutschsprachige Stellungnahmen aus der Frauen- und Geschlechterforschung rar sind, stellte diese Frage in den internationalen Frauenbewegungen ein zentrales Anliegen dar. Diese Diskrepanz sei nicht nur „ein beunruhigendes Anzeichen der globalen Spaltung“ (S. 40), sondern auch Ausdruck der sich akademisierenden westlichen Kritik am vermeintlichen Essenzialismus ökofeministischer Positionen. Ergänzt wird dieser Aufsatz um den Wiederabdruck eines englischsprachigen Texts aus dem Jahr 1989 von Vandana Shiva, in dem diese die ökologische Krise in einen Zusammenhang mit der geschlechtlichen Arbeitsteilung und dem Wachstumsverständnis der modernen Gesellschaften bringt. Der Aufsatz hat ohne Zweifel „im Ökofeminismus Klassikerstatus“ (S. 10), wie die Herausgeberinnen einleitend behaupten, und ist nach wie vor lesenswert und diskussionswürdig. Zugleich wäre es aber sinnvoll, den Wiederabdruck um eine inhaltliche Einordnung der darin vertretenen Position angesichts einer fortgeschrittenen Debatte über gesellschaftliche Naturverhältnisse und deren Verknüpfung mit Geschlechterverhältnissen zu ergänzen. Abschließend untersucht Beate Littig den aktuellen Nachhaltigkeitsdiskurs mit Blick auf die Green Economy und zeigt die Widersprüchlichkeit des Konzepts auch über die geschlechterpolitische Dimension hinaus auf.
Im zweiten Abschnitt zu „Lebenssorge und Ökonomie“ befassen sich die Autorinnen mit den Bedingungen der Reproduktion der industriellen und kapitalistischen Moderne. Nach Cornelia Klinger betrifft Lebenssorge „alle theoretischen Reflexionen von und alle praktischen Relationen zwischen Menschen, die sich aus den Bedingungen der Kontingenz, das heißt aus dem Werden und Vergehen des Lebens ergeben“ (S. 82 f.). Die Geschichte der Lebenssorge in der Moderne zeige, dass diese in Verbindung mit dem demokratisch-wohlfahrtsstaatlichen Konzept von bürgerlicher und patriarchaler Herrschaft geprägt sei, während das neoliberal-marktwirtschaftliche Regime die Lebenssorge Marktprinzipien unterwerfe. Brigitte Aulenbacher legt dar, dass sich die Beziehung zwischen Ökonomie und Sorgearbeit wandelt, im Muster aber herrschaftlich organisiert bleibt. Sorgearbeit wird hier vor allem im Hinblick auf ihre Verberuflichung, ja Professionalisierung, und Einbettung in marktökonomische Logiken verhandelt, wobei in den Ausführungen der sogenannte private Raum mit den sich wandelnden Geschlechterarrangements und damit verbundenen veränderten Formen der Lebensführung seltsam verkürzt dargestellt wird. Schließlich erörtert Birgit Riegraf Entwicklungen der Fürsorge im internationalen Vergleich und stellt fest, dass es sich hinsichtlich der Verteilung und Zugänglichkeit von Leistungen in den einzelnen Ländern und für die einzelnen Gesellschaftsmitglieder nach Geschlecht, Ethnie und Schicht ungleichheitsgenerierend und ‑verschärfend auswirkt, wenn das New Public Management in die Reorganisation der öffentlichen Daseinsvorsorge eingeführt wird.
In den Beiträgen des dritten Abschnitts wird der Fokus auf Transformationen im Verhältnis von „Öffentlichkeit und Privatheit“ gelegt. Max Preglau untersucht im einleitenden Text die Bedeutung dieser Dichotomie in der modernen Gesellschaft. Im Zuge des Strukturwandels der Öffentlichkeit(en) sei es auf Druck sozialer Bewegungen zu einer Inklusion der Arbeiter/-innenschaft, der Frauen und von Migrant/-innen gekommen. Neuere Wandlungsprozesse bestünden in einer Zurückdrängung des Staats zugunsten von Märkten, Transnationalisierung und der sich ausweitenden Verbreitung von neuen elektronischen Kommunikationsmedien, mit denen die Erfolge der Frauenbewegungen „nachträglich geschmälert und neue Ausschlüsse sichtbar“ (S. 162) würden. Der andere Teil der Dichotomie, das Private, wird im Beitrag leider nicht näher analysiert.
Das mag auch damit zusammenhängen, dass es in den beiden anderen Beiträgen dieses Abschnitts um demokratietheoretische Fragen geht, wenngleich sich die Autor/-innen nicht erkennbar inhaltlich aufeinander beziehen. Birgit Sauer setzt sich mit der Krise der Demokratie auseinander, die sie in Erweiterung des von Birte Siim und Hege Skjeie entwickelten gender equality paradox nicht nur als ethnisch, sondern auch klassistisch durchwirkt begreift: Gehör im politischen Entscheidungsraum fänden unter neoliberalen Bedingungen der Postdemokratie nur (noch) gut ausgebildete städtische Mittelschichten beiderlei Geschlechts. Ursula Birsl und Claudia Derichs weiten die demokratietheoretischen Überlegungen international vergleichend aus und zeigen, dass die Gleichsetzung von Demokratie mit Geschlechteregalität und Autokratie mit Geschlechterherrschaft nicht haltbar ist. Wie eine Demokratisierung von geschlechtlichen/sozialen Ungleichheits- und Herrschaftsverhältnissen in liberalen Demokratien und Autokratien aussehen könnte, sei offen.
Im vierten Abschnitt werden „Normierungen und Ideologien“ betrachtet. Ilse Lenz erörtert ihre These, dass sich gegenwärtig eine mögliche Transformation der Geschlechterverhältnisse abzeichne. In ihren Ausführungen zu einer „politische[n] Soziologie der Geschlechterverhältnisse der Moderne“ (S. 204) schlägt sie historisch einen großen Bogen: In der nationalen Modernisierung, in der sich der Kapitalismus, die Nation und die moderne Familie herausgebildet hätten, sei eine neopatriarchale Geschlechterordnung verankert worden, wobei die Vorsilbe ‚neo‘ hier signalisiert, dass es sich um ein modernes Herrschaftssystem handelte. In der organisierten Moderne, die die nationale Moderne ablöst und durch die Herausbildung der Massendemokratie und des Wohlfahrtsstaats gekennzeichnet ist, sei die Geschlechterordnung differenzbegründet. In der gegenwärtigen reflexiven Moderne sieht die Autorin eine flexibilisierte Geschlechterordnung entstehen, in der unter anderem die hegemoniale Norm der Zweigeschlechtlichkeit aufgebrochen wurde und sich das Verständnis von Geschlecht pluralisiert.
Sabine Hark und Mike Laufenberg diskutieren die Frage, in welchen Hinsichten gegenwärtig Heteronormativität neoliberal reorganisiert wird und ob dies mit einer Schwächung derselben einhergeht. Dabei kommen sie zu anderen Schlussfolgerungen als Lenz: Zwar sehen auch Hark und Laufenberg eine Pluralisierung von Sexualität, die mit der Heterosexualität verbundene Heteronormativität jedoch keineswegs im Verschwinden begriffen, sondern unter neoliberalen Verhältnissen weiterhin gesellschaftlich funktional für die sozial entsicherte Reproduktionssphäre und die damit verbundenen Familien- und Versorgungsarrangements. Zugleich sei auch die queere (Sub-)Kultur in erheblicher Weise von Kommodifizierungs- und Vermarktlichungsprozessen betroffen. Heteronormativität sei daher eine zentrale Kategorie, „um die Persistenz und Beständigkeit des Kapitalismus – auch in Krisenzeiten – zu verstehen. Im Umkehrschluss gilt, dass Gesellschaftstheorie und Ökonomiekritik unvollständig bleiben müssen, solange sie nicht eine Analyse der Heteronormativität mit einschließen.“ (S. 243)
Im letzten Beitrag setzt sich Angelika Wetterer mit der Krise feministischer Kritik auseinander und nimmt dabei ihre früheren Überlegungen zur rhetorischen Modernisierung wieder auf. Rhetorische Modernisierung meint die Rede über Gleichberechtigung bei gleichzeitigem Fortbestand von geschlechtlicher Ungleichheit, die jedoch unter dem Deckmantel vermeintlicher Gleichberechtigung der Thematisierung entzogen und gegenüber Kritik immunisiert werde. Insofern ist rhetorische Modernisierung ein Beispiel für das „erfolgreiche Scheitern feministischer Kritik“ (S. 246). Für diese These liefert die Autorin in ihrem Beitrag Belege aus der Forschung zur alltäglichen Arbeitsteilung in Paarbeziehungen und zur Reproduktion geschlechtlicher Differenzierungen und Asymmetrien in professionalisierten Berufsfeldern und Organisationen. Unter Rückgriff auf Pierre Bourdieus Überlegungen zu symbolischer Gewalt und männlicher Herrschaft zeigt sie schließlich, dass das erfolgreiche Scheitern feministischer Kritik als eine Kehrseite der erfolgreichen Bewahrung männlicher Herrschaft verstanden werden kann.
Die im Buch versammelten Beiträge sind je für sich betrachtet und in ihrer wechselseitigen Bezugnahme auch durch die Querverbindungen, die von den Herausgeberinnen in der Einleitung umrissen werden, anregend und eine Bereicherung für die aktuellen zeitdiagnostischen Debatten im sozial- und politikwissenschaftlichen Spektrum. Insofern ist ihnen eine breite Rezeption zu wünschen. Zugleich regt sich aber bei so manchem Argument Widerspruch, sucht die Leserin vergeblich nach begrifflichen und/oder empirischen Präzisierungen und wünscht sich ab und an auch etwas mehr argumentative Gründlichkeit sowie mehr Sorgfalt in Literaturbelegen und dem Umgang mit der Rechtschreibung.
Ob die präsentierten feministischen Gesellschaftsdiagnosen tatsächlich so anders sind als die Diagnosen im „Mainstream der Sozial- und Politikwissenschaften“ (S. 8), sei dahin gestellt. Mit der thematischen Sortierung in vier Abschnitte wollen die Herausgeberinnen die „Betrachtung der Zusammenhänge“ bzw. „komplexe gesellschaftliche Konstellationen“ (S. 20) in den Blick rücken, anstatt der „klassischen Anordnung“ nach getrennten Bereichen der Gesellschaftsanalyse – „Natur, Ökonomie, Politik, Kultur“ (S. 19) – zu folgen. Dies stelle einen Teil des im Titel der Einleitung angedeuteten „anderen Blicks auf die Gesellschaft“ dar. Appelt, Aulenbacher und Wetterer begründen die thematische Schwerpunktsetzung damit, dass sie denjenigen Betrachtungsweisen Aufmerksamkeit zukommen lassen und verschaffen wollten, „welche von feministischer Seite entwickelt worden sind und sie, umgekehrt, kennzeichnen, im traditionell wie auch gegenwärtig wesentlich kapitalismustheoretisch dominierten soziologischen und politologischen Krisendiskurs aber, wenn überhaupt, eher am Rande als im Zentrum der Debatte zu Kenntnis genommen werden“ (S. 20). (Feministische) Gesellschaftsanalyse, wie im Titel des Bandes versprochen, ist demnach wesentlich (feministische) Kapitalismusanalyse.
Darüber, welche Perspektive im Zentrum und welche eher am Rande der Debatte ist, auch aus feministischer Blickrichtung, lässt sich bekanntlich streiten. Gewiss ist (feministische) Kapitalismusanalyse und -kritik wichtig und auch nötig. Der inhaltliche Fokus des Bands hätte aber durchaus auch um die aktuelle Krise des Wohlfahrtsstaats erweitert werden und damit die in den Sozial- und Politikwissenschaften häufig vorgenommene Trennung zwischen Kapitalismus- und Wohlfahrtsstaatsanalyse aufbrechen können, statt diese zu reproduzieren. Die sich wandelnden Zusammenhänge zwischen Ökonomie und Staat bzw. Politik finden gegenwärtig gleichermaßen Aufmerksamkeit wie die hier behandelten, auch im feministischen Spektrum. Erstaunlich ist darüber hinaus, dass im vorliegenden Buch der Wandel in den privaten Familien- und Lebensformen wie Geschlechterverhältnissen kaum in die Diagnosen einbezogen wird, ist doch beispielsweise die vermeintliche Krise der Familie eng mit Transformationen des Kapitalismus verknüpft. Gesellschaft erscheint so wesentlich als (nur) öffentlicher Raum. Die Verknüpfung und Erweiterung des Blickwinkels bleibt folglich weiteren zeit- bzw. krisendiagnostischen Publikationen mit feministischem Fokus vorbehalten.
Prof. Dr. Heike Kahlert
Ludwig-Maximilians-Universität München
Institut für Soziologie, Lehrstuhlvertretung für Soziologie mit dem Schwerpunkt „Soziale Entwicklungen und Strukturen“
Homepage: http://www.heike-kahlert.de
E-Mail: heike.kahlert@soziologie.uni-muenchen.de
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