Ingrid Kurz-Scherf, Alexandra Scheele (Hg.):
Macht oder ökonomisches Gesetz?
Zum Zusammenhang von Krise und Geschlecht.
Münster: Verlag Westfälisches Dampfboot 2012.
313 Seiten, ISBN 978-3-89691-903-8, € 34,90
Abstract: Im Mittelpunkt des Sammelbands, der von den Politikwissenschaftlerinnen Ingrid Kurz-Scherf und Alexandra Scheele herausgegeben ist, stehen Betrachtungen aus feministischen Perspektiven zum Verhältnis von Ökonomie und Politik im Kontext der Finanz- und Wirtschaftskrise seit 2008. Dabei werden feministische Diskurse zur aktuellen Krise reflektiert sowie Möglichkeiten ausgelotet, wie ökonomische und finanzpolitische Diskurse um feministische Perspektiven erweitert werden könnten, Schlaglichter auf die Anti-Krisenpolitik und die Auswirkungen der Krise auf Geschlechtergerechtigkeit in einigen europäischen Ländern geworfen sowie alternative Denkangebote beleuchtet. Trotz der Heterogenität der Zugänge, Methoden und Qualität der Beiträge finden sich hier diverse Anstöße zum Weiterdenken und -forschen.
Die mit der Pleite der US-amerikanischen Investmentbank Lehman Brothers im September 2008 ausgelöste Finanz- und Wirtschaftskrise erfährt nicht nur in Ökonomie, Politik und Medien erhebliche Aufmerksamkeit, sondern ruft auch zahlreiche kritische Stimmen erneut auf den Plan, sich mit der aktuellen Verfasstheit von Ökonomie, Arbeit und Politik reflektiert auseinanderzusetzen. Auch im Spektrum der Frauen- und Geschlechterforschung greifen entsprechende Analysen und Kritiken um sich. Die beiden Politikwissenschaftlerinnen Ingrid Kurz-Scherf und Alexandra Scheele widmen diesen Debatten einen umfangreichen Sammelband, der 2012 in erster und 2013 in zweiter unveränderter Auflage erschienen ist. Mit dem Titel des Bandes knüpfen die Herausgeberinnen an einen 1914 erstmals erschienenen Aufsatz von Eugen von Böhm-Bawerk an, der in den Wirtschaftswissenschaften eine bis heute andauernde Kontroverse über das Verhältnis von Ökonomie und Politik angestoßen hat. Ziel ist, in der gegenwärtigen Vielfachkrise an diese Kontroverse anzuknüpfen und dabei aus dem Kontext feministischer Wissenschaft „nach den darin wirksamen Macht- und Herrschaftsverhältnissen wie aber auch nach den darin enthaltenen Möglichkeiten politischen Handelns – auch im Sinn der Entfaltung einer zukunftsfähigen Ökonomie“ (S. 10) zu fragen. Der Sammelband ist aus einer Tagung der Forschungs- und Kooperationsstelle GendA der Philipps-Universität Marburg im Januar 2011 hervorgegangen, basiert letztlich aber auf einem eigenständigen und gegenüber der Tagung erweiterten Konzept, für das weitere Autor/-innen gewonnen wurden.
In den Texten des ersten Blocks, überschrieben mit „Hat die Krise ein Geschlecht?“, werden in erkenntnistheoretischer Absicht feministische Diskurse zur aktuellen Krise reflektiert sowie Möglichkeiten ausgelotet, wie ökonomische und finanzpolitische Diskurse um feministische Perspektiven erweitert werden könnten. Alexandra Scheele widmet sich im einleitenden Beitrag dem Phänomen des Aufstiegs parteiloser Experten in politische Spitzenfunktionen, die in der gegenwärtigen Krise als vermeintlich kompetenteste Krisenmanager zu gelten scheinen. Mit Bezug auf Ergebnisse der feministischen Repräsentationsforschung fragt sie nach der demokratischen Legitimation der gegenwärtig um sich greifenden „[t]echnokratische[n] Politik“ (S. 24) zur Krisenbewältigung, in der geschlechterpolitische Aspekte keine Berücksichtigung fänden. Dies würde Zeit und Möglichkeiten zur politischen Teilhabe erfordern, beides scheine jedoch in der Krisenbewältigung nicht vorhanden zu sein. Brigitte Young reflektiert, „wie die derzeitige Kluft zwischen Finanzökonomik und feministischer Forschung ansatzweise überbrückt werden“ (S. 39) könne, und fordert „die feministische Forschung“ auf, sich in Richtung makroökonomischer Prozesse und der darin verankerten Finanzmarktökonomie zu re-orientieren, kurz: den Blick auf das „System eines finanzmarktdominierten Kapitalismus“ (S. 49) zu richten.
„Die Krise männlicher Muster von Erwerbsarbeit“ (S. 52) steht im Zentrum des Beitrags von Andreas Heilmann. Ausgehend von der Annahme, dass der Anteil von Männern am Wandel der Arbeits- und Geschlechterverhältnisse empirisch bislang eine Blackbox geblieben ist, stellt der Autor Verbindungen zur Diskussion über die Krise der Männlichkeit her und entwirft heuristische Ansätze für ein dementsprechendes Forschungsprogramm, das in mikropolitischer Hinsicht auch die subjektiven Ansprüche von Männern ernst nehmen und integrieren sollte. Friederike Habermann zeigt sich in ihrem Beitrag skeptisch darüber, dass die „jahrzehntelange Kritik von Feministinnen am Menschenbild des homo oeconomicus nun endlich im Mainstream der Wirtschaftswissenschaften angekommen und damit hinfällig geworden“ (S. 68, Hervorhebung im Original) sei. In ihren erfrischenden Betrachtungen dieses grundlegenden Menschenbilds der Ökonomie plädiert sie für die Entwicklung einer queerfeministischen Perspektive auf den homo oeconomicus: „Die Alternative zum besoffenen Testosteron-Banker ist nicht der Östrogen gespritzte ehrbare Kaufmann – und auch nicht die Kauffrau. Es geht um nicht weniger, als die Welt des Normalen mitsamt unseren darin verankerten Idealen zu verändern“ (S. 79). Schließlich tritt Ingrid Kurz-Scherf für die „Wiederaufnahme einer eigensinnigen feministischen Kritik der Politischen Ökonomie“ (S. 83 f.) ein. Diese sollte an den weitgehend verstummten Diskurs um eine andere Moderne anschließen und eine feministisch inspirierte Zukunftsdebatte anstimmen, die auch Kapitalismus- und Patriarchatskritik beinhaltet.
Verschiedene Schlaglichter auf die Anti-Krisenpolitik und auf die Auswirkungen der Krise auf Geschlechtergerechtigkeit in Deutschland und einigen anderen europäischen Ländern werden in den Texten des zweiten Blocks geworfen. Zum Einstieg rekonstruiert Helene Schuberth die Fehlkonstruktion der europäischen Währungsunion in ihrer wirtschaftspolitischen Ausgestaltung und argumentiert, dass diese die Durchsetzung ökonomischer, politischer und sozialer Gleichstellung der Geschlechter erschwert. In der EU-Wirtschaftspolitik zeigten sich postdemokratische Effekte, die Bürgerinnen und Bürger aus den politischen Prozessen ausschlössen. Unter Bezugnahme auf den Foucault’schen Kritikbegriff untersucht Gabriele Michalitsch die Macht- und Wahrheitseffekte der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008 im Hinblick auf Arbeit und Geschlechterverhältnisse. Arbeit und die darauf bezogenen Diskurse seien im Kontext der Krise seit 2008 durch die Kontinuität neoliberaler Transformationsprozesse und die damit einhergehende Verfestigung von Geschlechterhierarchien charakterisiert. Retraditionalisierende Geschlechterentwürfe und -verhältnisse seien eine Folge. Die Herausforderung für feministische Kritik liege also darin, sich „entsprechend verstärkt am gesamtgesellschaftlichen Geschlechtersystem auszurichten“ (S. 136).
Diana Auth umreißt in ihrem informativen, empirisch ausgerichteten Beitrag die sozialpolitischen Entwicklungen in Deutschland seit Beginn der Krise und schlussfolgert, dass die Folgen der Finanz- und Wirtschaftskrise sozial ungleich verteilt seien, auch zwischen den Geschlechtern. Sie verdeutlicht, dass es zu kurz greift, ‚die Frauen‘ oder ‚die Männer‘ als Verlierer/-innen bzw. Gewinner/-innen in der Krise anzusehen. Margit Schratzenstaller kann im deutsch-österreichischen Vergleich zeigen, dass die Geschlechterperspektive sowohl auf der nationalen Ebene beider Länder als auch auf der supranationalen Ebene der EU in der Realität keine Berücksichtigung erfährt. Bestehende Regelungen zu Gender Mainstreaming fänden keine Anwendung, und Evaluierungen aus Gleichstellungssicht fehlten, sodass dies nicht einmal auffiele.
Die beiden abschließenden Texte nehmen Entwicklungen in zwei gegenwärtig als besonders von der Krise betroffenen europäischen Ländern in den Blick. Maria Karamessini erörtert die Strukturkrise und deren Bewältigungsversuche in Griechenland und argumentiert, dass es im Zuge der Umstrukturierungen zur Aushöhlung der Fundamente des erreichten gesellschaftlichen Fortschritts und der Geschlechtergerechtigkeit komme. Die Situation in Spanien wird von Cristina Castellanos Serrano und Elvira González Gago beleuchtet. Durch die Krise sei es zu einer Angleichung der Geschlechter „nach unten“ gekommen: Die Lage der Männer habe sich verschlechtert, und die Lage der Frauen sei gleich schlecht geblieben, wobei Frauen noch immer hinsichtlich des Arbeitsmarkt- und Armutsrisikos schlechter dastünden als Männer.
Der dritte Block ist missverständlich mit dem Titel „Alternativen denken“ überschrieben. Die Herausgeberinnen versammeln hier Texte, die sich damit befassen, „wie sich unter den gegenwärtigen Umständen Alternativen überhaupt denken und entwickeln lassen, wie ökonomische Alternativmodelle aussehen und praktisch in Gang gesetzt werden (könnten) oder auch, wie sich gesellschaftliche Integrationsmodi jenseits von Erwerbsarbeit denken und gestalten lassen“ (S. 15). Wer hier Neues erwartet, wird enttäuscht, handelt es sich doch durchweg um Einlassungen, die Altbekanntes zum Teil nur mit einem neuen wording versehen und so vorliegende Ansätze feministischer Kritik wiederaufleben lassen. Diese hier zum Ausdruck kommende Ratlosigkeit in feministisch-kritischen Zeitdiagnosen mag der gegenwärtigen Situation des auf Bestandserhalt abzielenden Zusammenspiels von Gesellschaft, Ökonomie und Politik geschuldet sein: Zwar ist deutlich geworden, wie problematisch ‚der (Finanzmarkt-)Kapitalismus‘ gerade auch in geschlechterpolitischer Hinsicht ist, aber Visionen jenseits des Kapitalismus scheinen offensichtlich nicht auf. Fast entsteht der Eindruck, als sei der Finanzmarktkapitalismus alternativlos.
Eva Berendsen bringt dieses Dilemma – wohl in dieser Reichweite unbeabsichtigt – im Titel ihres Beitrags („Am Besten nichts Neues? Feministisch inspirierte Überlegungen zu einer alternativen Finanzökonomie“) auf den Punkt. Sie will aufspüren, wie aus dem herrschenden finanzökonomischen Entwicklungsmodell „Konsequenzen zur Vermeidung künftiger Fehlentwicklungen und Verwerfungen gezogen werden können“ (S. 229), und dafür Forschungsbedarf aufzeigen. Ihr Fazit lautet „am Allerbesten wieder Uraltes!“ und kann durchaus auch als Aufruf gelesen werden, sich wieder auf die Basics der Androzentrismuskritik zu besinnen. Elisabeth Voß führt in die internationalen Debatten über solidarische Ökonomie ein und plädiert für Selbstorganisation „von unten“. Lena Schürmann und Lena Correll kritisieren die Vergabepraxis von Mikrokrediten im deutschen und EU-europäischen Rahmen und schlussfolgern, dass in Deutschland dabei nicht die Förderung der ökonomischen Selbstständigkeit von Frauen im Mittelpunkt stünde. Als gäbe es im feministischen Kontext nicht seit längerem gesellschaftstheoretische Diskussionen über einen anderen Vergesellschaftungsmodus etwa in Gestalt von Tätigkeit, fordert Irene Dölling die Überschreitung des Arbeitsparadigmas und Theorieentwürfe jenseits der Vorstellung einer Industriegesellschaft. Schließlich erörtert Silke van Dyck die Bedeutung und Reichweite der Kritikwelle im Kontext der Wirtschafts- und Finanzkrise. Die Geschlechterperspektive gerät ihr dabei völlig aus dem Blick und wird, fast schon ironisch anmutend, im letzten Satz des Beitrags als Leerstelle der gegenwärtigen Lesarten von Protestbewegungen, beispielsweise der Occupy-Bewegung, benannt.
Mit dem vorliegenden Sammelband sind in der Tat zwei Ziele der Herausgeberinnen weitgehend eingelöst, nämlich die Zusammenführung der zentralen Debatten um die Finanz- und Wirtschaftskrise und die Analyse der Verfasstheit von Ökonomie, Arbeit und Politik. Dass in einem multidisziplinär angelegten Sammelband nicht alle Aspekte der sogenannten Vielfachkrise erschöpfend behandelt werden können und theoretische Inkonsistenzen zwischen den einzelnen Beiträgen und, zum Teil auch damit verbunden, unterschiedliche Einschätzungen der Verfasser/-innen verknüpft sind, liegt auf der Hand. Gleichwohl verlieren sich die vielgestaltigen, heterogenen und zum Teil auch in qualitativer Hinsicht unterschiedlichen Beiträge ab und an etwas in der allgemeinen Krisenrhetorik. Nur selten wird sorgfältig benannt, von welcher Krise in den Beiträgen gesprochen wird – neben der Finanz- und Wirtschaftskrise geht es unter anderem auch um die Krise der Männlichkeit, die demographische Krise und die Krise der Kritik –, mit welcher analytischen Perspektive die Krisendiagnostik betrieben wird, auch fehlen partiell empirische Belege für teilweise starke Behauptungen. Hier hätte intensiver herausgeberisch auf eine Präzisierung hingewirkt werden können. Auch finden sich manchmal sprachliche Nachlässigkeiten.
In fachlicher Hinsicht offen bleibt neben der Zusammenschau der verschiedenen disziplinären Perspektiven und methodischen Herangehensweisen schließlich eine Bündelung der vielfältigen Facetten auf den Erkenntnisgegenstand des Bandes: Deutlich wird, salopp formuliert, dass feministische Kritik an Ökonomie und Politik und ihrem kontroversen Verhältnis nach wie vor nottut, dass in empirischer Hinsicht keineswegs generell Frauen oder generell Männer von der Krise – oder sollte man sagen: den Krisen? – besonders stark betroffen sind und dass sich auch im feministischen Kontext kaum Visionen jenseits des (Finanz-)Kapitalismus abzuzeichnen scheinen. Welche Schlussfolgerungen aus diesen, fast schon banal klingenden, Erkenntnissen zu ziehen sind, bleibt jedoch weiteren Analysen vorbehalten. Das damit gegebenenfalls verbundene künftige Forschungsprogramm ist folglich noch nicht geschrieben. Diese kritischen Bemerkungen zum Schluss sollen freilich den Erkenntnisgewinn des Bandes keineswegs schmälern oder gar den Eindruck erwecken, als handelte es sich um ein unwichtiges Buch der feministischen Zeitdiagnose. Sie zielen vielmehr auf Anstöße für theoretische wie empirische Anschlussprojekte mit ebenso viel Mut zum Denken großer Fragen.
PD Dr. Heike Kahlert
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