Julia Kristeva:
Das weibliche Genie – Melanie Klein.
Das Leben, der Wahn, die Wörter.
Gießen: Psychosozial-Verlag 2008.
274 Seiten, ISBN 978-3-89806-837-6, € 44,90
Abstract: Julia Kristeva widmet sich im zweiten Teil ihrer Trilogie über das weibliche Genie dem Leben und Werk von Melanie Klein, die mit ihren Arbeiten über die früheste Verfasstheit des Psychischen das psychoanalytische Denken für die Psychosen und den Wahn aufschloss und die Rolle des Mütterlichen im psychoanalytischen Diskurs neu definierte. In ihrer Auseinandersetzung mit Klein gelingt Kristeva nicht nur eine ausgesprochen gelungene Einführung in Kleins Denken, sondern auch eine Analyse weiblicher Intellektualität im 20. Jahrhundert. Zudem werden die Schnittstellen im Denken Kleins und Kristevas sichtbar.
‚From Klein to Kristeva‘ war der Titel eines Buches, das 1993 in den USA erschien und erstmals Melanie Klein und Julia Kristeva nicht nur in einem Atemzug nannte, sondern beide in ein im weiteren Sinn genealogisches Verhältnis zu einander setzte. Nur sechs Jahre später, 1999, war es Julia Kristeva selbst, die die Blickrichtung umkehrte und sich der Psychoanalytikerin Melanie Klein in einer fulminanten Studie selbst zuwendete. Die Schneisen, die sie auf dem Weg zu deren Denken schlägt, die Blickachsen, die sie freilegt, die Fragen, denen sie in der Erkundung des Klein’schen Denkuniversums folgt, sind fest verankert in Kristevas ureigenen und hochspezifischen Denkbewegungen: Von Kristeva zu Klein.
Kristevas Klein-Buch, das nach langen Jahren des Wartens nun endlich in einer soliden, wenn auch mitunter ein wenig ‚holperigen‘ deutschen Übersetzung vorliegt, ist der zweite Teil ihrer Trilogie über Le Génie Féminine. Es steht zwischen einer Studie über Hannah Arendt und einer dritten über Colette, mit der sie, einen Blick zurück auf das ausklingende 20. Jahrhundert werfend, die Fähigkeit der Frauen zur Grenz- und Selbstüberschreitung – eben dies ist Kristevas Definition des Genies – als zwar grundsätzliche Potentialität, aber auch als individuelle Leistung beschreibt, deren Singularität sie anerkannt und gewürdigt wissen will. Jede der drei Frauen, die Kristeva in ihrer Trilogie weiblicher Genies vorstellt und dabei, gleichsam als Subtext, der Frage nachgeht, worin deren Einzigartigkeit gründet und welcher Möglichkeitsbedingungen sie bedarf, hat neue Denkhorizonte erschlossen, Perspektivwechsel eingeleitet und dergestalt einen wesentlichen Beitrag zu unserem gegenwärtigen kollektiven wie individuellen Selbstverständnis geleistet. Kristeva erkennt in den Lebensleistungen ihrer Protagonistinnen „drei Erfahrungen, […] drei Werke einer enthüllenden Wahrheit“, die sich „inmitten des Jahrhunderts und zugleich an dessen Rändern [realisierten]“ (Kristeva in HA, S. 19). Diese Frauen, so fährt sie in der Skizzierung ihrer Projektes, das sie dem ersten Band über Hannah Arendt voranstellt, fort, „machten sich zu hellsichtigen und leidenschaftlichen Erkunderinnen, indem sie ihre Existenz ebenso wie ihr Denken einbrachten und die Hauptfragen unserer Zeit aufgrund ihres besonderen Blickwinkels für uns erhellten“ (a. a. O., S. 20).
Julia Kristeva, selbst praktizierende Psychoanalytikerin, aber auch Kulturtheoretikerin, Linguistin, Semiotikerin, Literaturwissenschaftlerin, nähert sich dem Leben und Werk Melanie Kleins gleichsam von der Innenseite ihres, Kristevas, eigenen Denkens her. Trotz der prima vista erheblichen Unterschiede der drei von Kristeva untersuchten weiblichen Genies ist ihnen allen, neben der genannten Transgressionen und der daraus hervorgehenden Provokation des Bestehenden, die Identifizierung von Denken und Leben gemeinsam, ihr Denken als sinnlicher, leidenschaftlicher Vorgang. Doch das, was alle drei Frauen verbindet, wird nur von einer, der Psychoanalytikerin Klein, direkt thematisiert. Die Dialektik von Denken und Leben, die Triebgegründetheit des Denkens, die Konstitutionsbedingungen der Denkentwicklung, aber auch ihrer Störungen (etwa Denkhemmungen), die Ausgeliefertheit ans Wissenwollen (Kleins Wißtrieb) und deren unterschiedliche Schicksale in den Geschlechtern sind Gegenstand ihres Erkenntnisinteresses und werden zum Grundpfeiler ihrer theoretischen und klinischen Arbeit. Kristeva, an Lacan geschult, begegnet Klein, indem sie ihre eigenen Theorien anhand der Klein’schen Konzeptionen überdenkt, sie an Klein heranträgt. Von besonderem Interesse sind ihr hier natürlich Kleins Symbolbegriff bzw. ihre Arbeiten zur Symbolentwicklung und deren Implikationen für die Konzeptualisierung der Kreativität.
Sehr subtil verflicht Kristeva die ungewöhnliche, für Psychoanalytikerinnen zu Freuds Zeiten jedoch nicht untypische Biographie Kleins mit ihrer Gedankenwelt. So blieb sie zwar eng an Freuds Grundlegungen orientiert, oftmals sogar, wie etwa im Fall des Todestriebs, enger als andere Weggefährten und Schüler. Zugleich aber ging sie ‚mit ihm über ihn‘ hinaus und eröffnete auf diese Weise neue Perspektiven. Eine dieser neuen Perspektiven ist der Blick auf die Bedeutung des Mütterlichen, die sie Freuds Betonung des Vaters zur Seite stellte, sowie die zeitliche Vorverlegung des ödipalen Konflikts in die früheste phantasmatische Objektwelt des Infans. Gerade letzteres, die eminente Rolle des Phantasmatischen, für Klein radikaler noch als für Freud das Konstituens des Psychischen und des Subjekts, trifft auf Kristevas semiotisches Interesse und ihre Beschäftigung mit Symbolisierungsprozessen. Denken, so Klein, setzt ein, wenn das primäre Objekt in Verlust gerät bzw zerstört wird, wenn das Ich sich im Rahmen der depressiven Position als Urheber seiner Phantasien und Handlungen erkennt, sein Schuldig-Gewordensein anerkennt und das verlorene Objekt betrauert. Dies ist die Schnittstelle zwischen Klein und Kristeva, an der Kristevas Konzeption des Abjekts steht, jene Konzeptfigur des abwesenden, verlorenen, zerstörten Objekts, das, und hier ist Kristeva ganz nah bei Klein, auch in derem Denken für die Entwicklung und Ausgestaltung von Wissen, Kreativität und Identität von elementarer Bedeutung ist.
Mit großer Souveränität führt Kristeva die Leserin/den Leser durch Kleins Werk, präsentiert, hält inne, erklärt und ordnet manches neu, vermeidet Vereinfachungen, lässt Widersprüchliches bestehen. Die bereits erwähnte Verknüpfung von Biographie und Theorie ist in vielen Werkbiographien ein Quell der Peinlichkeit, wird doch oftmals allzu kurzschlüssig biographisches Material kausal zur Erklärung dessen herangezogen, was sich doch so vieler anderer Zuflüsse verdankt, so das theoretische Erkenntnis fast als ein Agieren lebensgeschichtlicher Mikrotraumen missverstanden, ja denunziert wird. Kristeva kommt ohne derlei Verkürzungen aus, kann aber doch plausibel ableiten, wie Kleins Geschichte zum Objektiv im Sinne Blumenbergs für ihr Erkennntisinteresse wurde, den Fokus ihrer Perspektive justierte und das Insistieren jener Fragen befeuerte, die sie ein Leben lang beschäftigen sollten.
Kristeva unterläuft die Chronologie und folgt den Fragen selbst. Auch wenn das Freud’sche Diktum vom Junktim zwischen Forschen und Heilen vielleicht eher zu den Mantren des psychoanalytischen Selbstverständnisses gehört als zu deren wissenschaftlicher Realität, ist Kleins Theorie ohne die klinischen Aspekte und vor allem ohne die Veränderungen, die sie am psychoanalytischen Setting vorgenommen hat, kaum darstellbar. Die wohl markanteste Veränderung dürfte Kleins direkte Anwendung der Psychoanalyse auf Kinder sein – eine Veränderung, die in ihren Augen tatsächlich lediglich das Setting, nicht aber die Grundidee selbst betraf. An die Stelle der Träume bei Freuds erwachsenen Patienten trat nun das Spiel als via regia zum Unbewussten, insofern es Einblick in die innere phantasmatische Objektwelt der kindlichen Patienten gewährte.
Kristeva erweist allen wichtigen Beiträgen Kleins zur psychoanalytischen Metapsychologie ihre Reverenz, indem sie sie in ihrer ganzen Vielschichtigkeit und theoretischen Komplexität darlegt und Kleins Denkbewegungen nachzeichnet: Kleins Beitrag zur negativen Übertragung, das so wertvolle Konzept der projektiven Identifizierung, die Rolle der Angst(-abwehr) und die archaische Verfasstheit des frühen Über-Ichs, Kleins Rezeption des Todestriebs und ihre Konzeptualisierung von Destruktivität, Vernichtungsangst, Neid und Gier sowie, für Kristevas eigene Arbeiten essentiell, die Rolle des Mütterlichen und die Bedeutung der Mütterlichkeit für Frauen. Weder Klein noch Kristeva lassen einen Zweifel daran, dass die mütterliche Dimension und ihre spezifischen Funktionen nicht nur für die Persönlichkeitsentwicklung von zentraler Bedeutung sind, sondern die conditio sine qua non dafür, an die Stelle der Angst die Fähigkeit zu denken und Symbolisierungen zu setzen.
Diese von Klein in der psychischen Verfasstheit des Subjekts untersuchten Fähigkeit, Angst durch Denken zu begegnen, Konflikte und Destruktivität durch Symbolisierung zu bekämpfen, zeichnet Melanie Klein selbst in ihrem lebenslangen Ringen um das und mit dem Unbewussten und in ihren oft heftigen Auseinandersetzungen mit der psychoanalytischen scientific community aus. So bemerkt Kristeva angesichts der von seelischen Tiefen geprägten Lebensgeschichte Kleins, sie habe „unter ihrer offenbaren Selbstgewißheit eine außergewöhnliche Durchlässigkeit für die Angst“ verborgen, und zwar für die Angst „der anderen wie auch für die eigene.“ Dies erst habe es ihr ermöglicht, sich dem Zerstörerischen, dem Psychotisch-Wahnhaften mit offenem Visier zu stellen und sie der Analyse zugänglich zu machen. Alle ihre Arbeiten reagieren auf die zugrundeliegende Frage, wie die Ängste, die uns zerstören, symbolisierbar werden können (vgl. S. 17). Das Ergebnis sei, so Kristeva, eine Reformulierung der analytischen Problematik, „was ihr Werk ins Zentrum der Humantität und der modernen Krise der Kultur“ (ebd.) stelle. Und diese Unerschrockenheit, der Mut, sich auf die Abgründe jener psychotischen Zerrüttetheit an der Basis unserer conditio humana einzulassen, verbinde sie zugleich mit dem anderen Genie Hannah Arendt, die sich auf den Spuren des ‚Bösen‘ ebenfalls mit der Zerstörung des Denkens befasste, und mit der sie, als intellektuelle Frau ihrer Zeit, eine ähnliche Geschichte teilt: „Dissidenten ihrer Herkunfts- wie ihres professionellen Milieus, Beute der Feindseligkeit von normativen Cliquen, aber auch fähig, schonungslos zu kämpfen, um ihre eigenen Ideen zu entwickeln und zu verteidigen, sind Arendt und Klein Widerspenstige, deren Genie es war, sich im Denken zu riskieren.“ (a. a. O., S. 18)
URN urn:nbn:de:0114-qn102169
Prof. Dr. phil. Lilli Gast, Dipl. psych.
apl. Professorin am Institut für Sozialpsychologie der Leibniz Universität Hannover sowie freie Wissenschaftlerin in Berlin
E-Mail: llgast@snafu.de
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