Abstract: Gudrun Schäfer zeigt an Beispielen aus der aktuellen Zeitschriftenwerbung und aus Karriereratgebern sowie anhand von zwei aktuellen Musikvideoclips, dass der Herrenanzug – selbst da, wo er als problematisches Symbol für Konventionalität fungiert, – nach wie vor als Referenzpunkt für ‚unangreifbare‘, universale professionelle Bekleidung gelten kann. Vor allem als Dresscode für Bewerbungsgespräche wird der Herrenanzug bzw. das Kostüm oder der Hosenanzug als weibliches Pendant als ein „Rettungsanker“ in einem Meer von Unsicherheiten angesehen. Seine Funktion als Symbol männlicher Souveränität und Universalität wird jedoch zunehmend in Frage gestellt, und der universale Geltungsanspruch des Herrenanzugs erodiert: Konventionelle ‚Banker- und Managerkleidung‘ wird abgelehnt, da die Berufstände durch die aktuelle Wirtschafts- und Finanzkrise stark in Misskredit geraten sind. In IT-Berufen geht der Trend zu deutlich informellerer Kleidung. Der höhere Anteil an Mitarbeiterinnen führt in einigen Unternehmen dazu, dass variierte – wenn auch adaptierte – Dresscodes gelten. Nicht zuletzt ist ein Trend zur stärkeren Körperbetonung und damit Individualisierung der Anzugmode zu verzeichnen, der mit der zunehmenden Pflicht zur zur ‚Körperarbeit‘ und Körperdarstellung auch bei Männern zusammenhängt.
„Ich fühlte schon seit Längerem so eine Unsicherheit, eine Uferlosigkeit. Ich weiß nicht mehr, wann das anfing? … Deine Ziele? Erreichbar, man sieht es jeden Tag im Fernsehen. … Sie haben von Chancen geredet. Solche, die es früher angeblich nicht gegeben hat, und die heute allen offen stehen. Ich habe mich angestrengt, … Ich wollte Sicherheit. Mir keine Sorgen machen müssen. Sehr bald habe ich mir trotzdem welche gemacht.“(Sebastian Christ: …und wünschen Ihnen für die Zukunft alles Gute. Ein Leben als Praktikant. München 2009.)
In Karriereratgebern für akademische Berufe wird er immer noch gern empfohlen: der Herrenanzug. Als Sinnbild vermeintlich universaler professioneller Männlichkeit vermittelt er seinem Träger Sicherheit in unsicheren sozialen Situationen. Zumindest verspricht er, eine Rüstung zu sein gegen Unwägbarkeiten und Zumutungen moderner Karriereverläufe.
In diesem Aufsatz möchte ich Beispiele aktueller, hegemonialer Männlichkeit aus Werbung, Karriereratgebern und Zeitschriften vorstellen und ihnen dann Beispiele aus Musikvideoclips entgegenstellen, in denen der Herrenanzug (meist) konventionelle Welten repräsentiert und dann unvermittelt in unkonventionelle Abenteuer verwickelt wird.
„Relax. You’re dressed.“ Dieser Slogan der Modefirma Bugatti fiel mir sofort ein, als ich den Call for Papers für die Tagung „Evidenz und Ambivalenz des Herrenanzugs“ (http://www.kunsttextil.uni-oldenburg.de/34247.html) an der Universität Oldenburg gelesen hatte. Ich erinnerte mich an das Werbemotiv einer Zeitschriftenanzeige, in dem eine Spielersituation thematisiert wurde. Sind nicht – so fragte ich mich – aktuelle Karriereverläufe, insbesondere akademische Karrieren, mit einer solchen Spielersituation vergleichbar? Und greift nicht dieses Anzeigenmotiv ein solches Lebensgefühl kongenial auf? Um mich zu vergewissern, kontaktierte ich die Firma Bugatti und erhielt umgehend das gewünschte Werbemotiv, ergänzt um ein zweites, dessen Analyse sich in diesem Zusammenhang ebenfalls als lohnend erweist.
Zu meiner Überraschung fand ich in dem Text zu dem ‚Spielermotiv‘ auch sozusagen ‚frei Haus‘ die Bestätigung meiner Hypothese, dass bestimmte männliche Dresscodes ‚Sicherheit‘ vermitteln sollen: „Es gibt Situationen, da ist Souveränität alles. Gerade in Situationen, in denen es eng wird. Gerade dann, wenn viel auf dem Spiel steht. Und um dann alles zu bekommen, was man will, muss man eine Souveränität zeigen, die andere sofort spüren. Am besten in einem Outfit von bugatti. Dann können Sie ihre Karten beruhigt ausspielen und abräumen.“
Das in Schwarzweiß gehaltene Anzeigenmotiv visualisiert die beschriebenen Situationen, in denen „viel auf dem Spiel steht“, durch eine Kartenspielszenerie, vielleicht das sprichwörtliche Pokerspiel, das auch in den allgemeinen Sprachgebrauch Eingang gefunden hat für Situationen, in denen riskant verhandelt wird: „Da habe ich hoch gepokert.“ Der blonde Protagonist sitzt in demonstrativ entspannter Körperhaltung, den Oberkörper gegen die Rückenlehne nach hinten geneigt, am Spieltisch, die Karten in der rechten Hand. Lediglich die linke Hand, die mit einem Glas zu spielen scheint, drückt eine gewisse Spannung aus. Der Protagonist ist in einen dunklen Anzug mit weißem Hemd, allerdings ohne Krawatte gekleidet, die Krawatte hätte wohl zu große Förmlichkeit in der Spielsituation repräsentiert. Der Blick des Protagonisten ist ruhig, aber eindringlich auf seinen Gegenspieler gerichtet, dessen Outfit exakt das Gegenteil eines Herrenanzugs repräsentiert: ein sogenanntes Muscleshirt, geschnitten wie ein konventionelles Unterhemd, das die Körperlichkeit des Mannes markiert und insbesondere seine muskulösen Oberarme betont. Dazu kommen eine enge Hose, ein breiter Gürtel und sehr breite Hosenträger, kombiniert mit ‚unseriös‘ wirkendem protzigen Schmuck, einer Kette und einem auffälligen Armband. Ein Jackett als Reminiszenz an korrekte Kleidung hängt über dem Stuhl. Im Gegensatz zur entspannten Körperhaltung des Protagonisten ist die Körperhaltung des Gegenspielers angespannt: Er neigt seinen Oberkörper nach vorne. Seine rechte Hand hält in ästhetischer Haltung eine brennende Zigarette, die linke hält die Karten verdeckt nach unten. Im Bild ist ein weiterer Mitspieler zu sehen, dessen Kleidungsstil mit einem hellen Hemd und einer schwarzen Weste zwischen den Styles der beiden Hauptakteure liegt. Ein vierter Mitspieler oder Beobachter ist mit einem dunklen Hemd korrekt gekleidet, allerdings verleihen die mit viel Gel nach hinten gekämmten Haare diesen beiden Männern einen unseriösen Touch wie auch die variierenden Barttrachten; nur der Protagonist ist glatt rasiert. Im Hintergrund, den konventionellen Regeln des Geschlechterverhältnisses entsprechend, beobachten zwei Frauen das Geschehen. Auch sie richten erwartungsvoll die Blicke auf den Protagonisten, gemäß der räumlichen Anordnung scheint die dunkelhaarige Frau auf der Seite der Gegenspieler zu stehen, während die blonde Frau dem Protagonisten näher zu stehen scheint.
Klar ist, dass in dieser Szenerie die Männer agieren und die Frauen lediglich als Beobachterinnen, vielleicht auch Dekoration, möglicherweise gar als Belohung im Hintergrund fungieren.
Davon unterscheidet sich das zweite Motiv, eine Restaurantsituation, durch die Konzentration auf einen einzelnen Mann, dem fünf Frauen gegenüber sitzen.
Der Mann trägte eine sogenannte „Kombination“, in der das Jackett anders aussieht als die Anzughose, dazu ein gestreiftes Hemd ohne Krawatte. Auch hier ist seine Körperhaltung entspannt, mit nach hinten gelehntem Oberkörper. Der Unterkörper ist ein wenig nach vorn geschoben, was körpersprachlich gemeinhin als sexuelles Interesse gedeutet wird. Andererseits sind seine Beine übereinandergeschlagen, eine Körperhaltung, die den Körper insgesamt weniger ‚raumgreifend‘ wirken lässt und daher meistens von Frauen im öffentlichen Raum gewählt wird, die damit ihren Unterleib schützen wollen. Die Hauptinteraktion findet zwischen dem Mann, der die im Vordergrund sitzende Frau anschaut, und dieser Frau statt, die ihrerseits zwar auch übereinandergeschlagene Beine, aber einen nach vorn geneigten Oberkörper aufweist, was auf ein höheres Engagement, aber auch auf eine größere Unsicherheit hinweist. Vier weitere Frauen schauen den Mann an. Das Anzeigenmotiv firmiert bei Bugatti unter dem Label „Fünflinge“. In der Tat sehen wir fünf gleichermaßen überaus attraktive Frauen, die in seidenen Cocktailkleidchen und mit ein wenig Schmuck verführerisch wirken. Ein Mann und fünf Frauen, passt der Kommentar der ersten Anzeige nun auch zu diesem Motiv: Kann der Mann auch hier seine „Karten beruhigt ausspielen und abräumen“? Geht es darum, gleich mehrere Frauen zufriedenzustellen? Oder darum, eine auszuwählen und die anderen nicht brüsk zurückzuweisen? Auch wenn die Situation ganz freizeitbezogen wirkt, scheint dennoch auch eine auf das Berufsleben bezogene Interpretation nicht völlig abwegig zu sein: Wie reagiert ‚Mann‘ auf die Übermacht von Frauen? Subtil zeigt sich hier die Universalität und damit die überlegene Macht des Herrenanzugs respektive der Kombination als Bekleidungsmodus, der gleichermaßen im Berufsleben wie im Privatleben die Souveränität und Attraktivität des Mannes unterstreicht.
Aktuelle Zeitschriften für die Karriereberatung von Universitätsabsolvent/-innen greifen diese visuellen Muster und subtilen Codes auf.
Das erste hier vorgestellte Beispiel, ein Artikel über den Einstieg in eine Wirtschaftsprüfungsgesellschaft (nebenbei: m. E. ein Verstoß gegen die Trennung von redaktionellen Inhalten und Werbeinhalten) thematisiert direkt in seiner Überschrift alle bisher genannten Merkmale moderner Karrieren: „Spannende Prüfungen für einsatzbereite Einsteiger“. „Spannend“ kann im positiven Sinne verstanden werden als Herausforderung an Intelligenz und Kreativität, kann aber auch darauf hinweisen, dass die betreffenden Personen Stress zu erwarten haben. Darauf verweist auch der Begriff „Prüfung“ ebenso wie „einsatzbereite Einsteiger“, will sagen, die Belastbarkeit und Stressresistenz der Berufsanfänger wird mit großer Sicherheit in den ersten Berufsmonaten bei dieser Gesellschaft einem Test unterzogen. In Bild und Text werden zwei Angestellte der Gesellschaft vorgestellt, wobei die Bekleidung der Frau an den männlichen Dresscode angepasst ist und nur minimal variiert: Beide tragen ein dunkles Jackett mit einem hellen Hemd, und die Krawatte des Mannes findet bei der Bluse der Frau ihre Entsprechung in einer dunkel abgesetzten Knopfreihe, die die helle Bluse vertikal teilt und ähnlich wie eine Kravatte wirkt. Dies allerdings ist nur dann möglich, wenn die oberen drei Blusenknöpfe geöffnet sind, was für Business-Zusammenhänge in puncto Frauenkleidung schon die Grenze des Anstands streift.
In einem weiteren Artikel geht es um das Für und Wider von Traineeprogrammen in Unternehmen.
Zu sehen ist ebenfalls ein einzelner Mann vor futuristischen hellen Gebäuden, von denen sich sein dunkler Anzug mit dunkler Kravatte abhebt. Das Foto ist aus einer Froschperspektive aufgenommen, sodass der Protagonist wie ein einsamer Herrscher vor dem Hintergrund einer imposanten Stadtkulisse wirkt.
Das dritte Beispiel zeigt – ungewöhnlich – einen Mann im Schneidersitz vor seinem Laptop, ebenso ungewöhnlich: im hellen Anzug mit hellem Hemd und dunkler Krawatte. Der dazugehörige Text erklärt das unkonventionelle Setting: Es geht um Berufsaussichten für den IT-Nachwuchs. Und auch hier wird wieder die Krise thematisiert und suggeriert, dass in einem lässigen, aber korrekten Anzug nichts schief gehen kann.
In einer Anzeige für Ingenieure trägt der Protagonist ein Karohemd, die Hose ist nicht zu sehen.
Das Karohemd als sprichwörtliches Symbol für Ingenieure verweist auf den Bezug zu handwerklichen Tätigkeiten. Oft habe ich in Anzeigen, die sich an Absolventen ingenieurwissenschaftlicher Fächer richten, die Kombination von Oberhemd und Anzughose oder ‚gepflegter‘ Jeans gesehen, ein Symbol der hybriden Zuordnung von Ingenieuren als Akademiker und Handwerker zugleich (vgl. Schäfer 2008).
Im Folgenden möchte ich drei Beispiele vorstellen, die den Herrenanzug fast bis zur Unkenntlichkeit variieren oder negieren. Anhand dieser abweichenden Beispiele wird noch deutlicher, was die Universalität des Herrenanzugs ausmacht.
Auf dem Cover einer Karrierezeitschrift sehen wir den amerikanischen Schauspieler Mickey Rourke im Anzug. Aber welch’ ein Anzug! Die Farbe (zartlila!) und das Material, scheinbar weich und in sich ein wenig changierend strukturiert, zeigen eine maximale Abweichung vom Vorbild eines ‚seriösen‘ Herrenanzugs. Der Körper wird in diesem Kleidungsstück eher betont als verhüllt, und der um den Hals drapierte Schal, die langen, zurückgegelten Haare, der Bart, das Armband, der dicke Ring am kleinen Finger und die Zigarette erinnern stark an die ‚halbseidenen‘ Gegenspieler in der ersten Bugatti-Werbung oder eben an einen Künstler. Das Ambiente, ein barocker Bilderrahmen und ein geschwungenes Sofa, verstärken den Eindruck von einem maximalen Gegensatz zu konventionellen professionellen Umgebungen. Und in der Tat liefert uns die Titelzeile die Antwort, warum wir ein solches Bild auf einer Karrierezeitschrift finden: „Manchmal muss man eben kämpfen.“
So wird das Motto von Rourke vorgestellt, der nach grandiosen Erfolgen ebenso grandiose Abstürze und ein gefeiertes Comeback vorzuweisen hat.
„Von persönlichen Niederlagen und globalen Krisen“ verspricht die Zeitschrift zu sprechen und wendet sich damit an eine verunsicherte Klientel, deren konventionelle Erfolgsrezepte zu versagen drohen oder bereits gescheitert sind.
Einen ganz anderen Eindruck vermittelt das Coverfoto einer Management-Zeitschrift, auf der zwei Zahnärzte in ihrer Berufskleidung posieren. Sie tragen weiße Hemden und weiße Hosen und weiße Schuhe. Die Kleidung verhüllt nicht, so wie ein Anzug dies tun würde, die natürlichen Körperformen, sondern betont sie eher. Dieser Eindruck der Schutzlosigkeit wird verstärkt durch die weiße Farbe der Kleidung, die in ihrer durchgängigen Helligkeit vom Kragen bis zum Schuhwerk am ehesten an Säuglingskleidung erinnert, aber vermutlich hygienische Sauberkeit signalisieren soll.
Das letzte hier vorgestellte Beispiel ist ein historisches: Es stammt aus dem Jahr 1936 und zeigt den deutschen Boxer Max Schmeling und den amerikanischen Boxer Joe Louis zusammen mit dem Wahlkampfmanager.
Dabei fällt der Kontrast der Bekleidung auf: Während Max Schmeling und der Manager im Herrenanzug korrekt mit Oberhemd und Krawatte als professionelle, souveräne und ‚zivilisierte‘ weiße Männer auftreten, wirkt Louis in seinem ja eigentlich auch professionellen Outfit, dem Trikot des Boxers mit nackten Armen und Beinen, weiß bandagierten Händen und Boxerstiefeln einerseits schutzlos und ausgeliefert, ‚exposed‘ (aufgrund der Nacktheit), andererseits, ebenfalls aufgrund der Nacktheit, auch ‚unzivilisiert‘. Dieses Foto wurde von den zu dieser Zeit in Deutschland bereits regierenden Nationalsozialisten propagandistisch ausgeschlachtet, um dem „zivilisierten Deutschen“ den „unzivilisierten Schwarzen“ gegenüber zu stellen (vgl. Kohtes 1999, S. 71).
Anhand der hier vorgestellten unterschiedlichen Beispiele sollte deutlich geworden sein, inwiefern der Herrenanzug als Referenzpunkt für ‚unangreifbare‘, universale professionelle Bekleidung gelten kann. Diese Vorstellung wird insbesondere in Karriereratgebern und entsprechenden Zeitschriften reproduziert.
Deshalb gilt der Herrenanzug (und das Kostüm oder der Hosenanzug als ‚weibliche‘ Variation) im Bewerbungsgespräch als absolutes Muss, in einer Grenzsituation, in der buchstäblich über ‚Sein oder Nichtsein‘ entschieden wird, verleiht dieser Dresscode Sicherheit. Die immer uneindeutiger werdenden Kriterien, nach denen Bewerberinnen und Bewerber eingestellt oder abgelehnt werden, lassen die korrekte und universal gültige Bekleidung als umso entscheidender für den Erfolg scheinen. So gilt der Herrenanzug gewissermaßen als ‚Rettungsanker‘ in einem Meer von Unsicherheiten.
Die allmähliche Erosion der Universalität des Herrenanzugs als Berufskleidung für eine ‚gehobene‘ berufliche Laufbahn findet im Alltag des Arbeitslebens statt: Anzug wird ausschließlich getragen an Tagen mit Kundenkontakt, ansonsten variiert die Kleidung je nach Branche zwischen leger und ‚gepflegt‘. Im morgendlichen Pendlerstrom der U-Bahnverteilerebenen und auf dem Bahnsteig fallen mir die Anzugträger auf, und wenn sie jünger als Dreißig wirken, ertappe ich mich bei dem Gedanken: „Oh je, der Ärmste, er hat bestimmt gleich ein Bewerbungsgespräch!“ Selbst im ICE und ganz bestimmt im Intercity sind die Anzugträger in der Minderheit. Auf den obersten Ebenen der gesellschaftlichen Hierarchie fällt die Befreiung vom offiziellen Dresscode leichter, und so konnte ich beobachten, dass auf einer hochkarätigen Veranstaltung der Chef einer sehr großen und ebenso erfolgreichen Firma in Hemd und Wollpullover auftauchte, während die Repräsentanten der Universität allesamt in Anzug, Hemd und Krawatte erschienen.
Auch die uniform wirkende Silhouette des klassischen Herrenanzugs wird aufgebrochen zugunsten einer stärkeren Betonung der individuellen Körpersilhouette (was eben auch zur Folge hat, dass der von einem solchen Anzug umhüllte Männerkörper schlank und gleichzeitig trainiert sein sollte): So schreibt die Zeitschrift „Südwestfalen-Manager“ zum Thema „Männermode Frühjahr 09“: „Auch bei Roy Robson verstärkt sich der Trend zu körpernahen Linien. In der Kollektion Frühjahr/Sommer 2009 wurde eine eigenständige Linie mit schmaler Schulterbreite, höherem Armloch, einer auf 75 cm verkürzten Sakkolänge sowie schmaleren Fassons und Patten entwickelt. In Kombination dazu sorgt die schlanke Hose mit einer 40/42er Fußweite für das modische Gesamtbild der neuen Anzuglinie.“ (Südwestfalen-Manager 3/09, S. 72).
Der Anzug bzw. der dazugehörige Männerkörper wird durch diese Trends sexualisiert, die vom modernen Mann verlangte ‚Körperarbeit‘ wird in den körperbetonten Anzügen aus weicherem Material und mit schmalerer und knapperer Silhouette (ein kürzeres Sakko lässt möglicherweise gar die Form des Hinterns erkennen oder zumindest erahnen) präsentiert. Die Gründe für diese Entwicklung sind komplex, gleichwohl möchte ich drei Hypothesen wagen: Erstens dient die Dar- und Ausstellung des sportiven Körpers als Beleg für Disziplin, Beweglichkeit und Belastbarkeit, zweitens werden auch Männerkörper im Zeitalter der Emanzipation zunehmend zu Objekten der Seh-Lust von Frauen und schwulen Männern (vgl. dazu Schäfer 1997 u. 2007 sowie Atlas/Tietz 2009), und drittens erschließt sich durch den Markt mit der Körperarbeit (Sport- und Fitnessmarkt, Kosmetikmarkt) ein weiterer ökonomischer Sektor, der im Verbund mit der Textilindustrie neue Zielgruppen erreicht.
Daraus lassen sich folgende Thesen ableiten (vgl. Schäfer 2007, S. 69):
Ein weiterer Faktor zur Beschleunigung der ‚Erosion‘ der Bedeutung des Herrenanzugs scheint die internationale Finanz- und Wirtschaftskrise zu werden: „Der Banker-Stil ist out“, titelt die Westdeutsche Allgemeine Zeitung (WAZ) in ihrer Ausgabe vom 9. Juni 2009 im Wirtschaftsteil (!) und zitiert eine Expertin aus der Textilwirtschaft: „Ein schwarzer Anzug macht im Moment niemanden mehr an; man kauft ihn, weil man ihn braucht.“ Interessant sind an diesem Zitat zwei Aspekte: einerseits die Formulierung „macht niemanden mehr an“, was implizit ausdrückt, dass bis vor kurzem schwarze Anzüge durchaus auch erotisch aufgeladen sein konnten. Andererseits die Betonung des Kaufs aus der Notwendigkeit heraus: „man kauft ihn, weil man ihn braucht.“ Was wiederum auf die oben erwähnten Assoziationen „Junger Mann im Anzug = Bewerbungsgespräch“ verweist.
In künstlerischen Darstellungen dient der Anzug oft als Symbol für Konvention.
Musikvideoclips sind eine moderne und multimediale künstlerische Ausdrucksform, in der Musik, visuelle Gestaltung und häufig auch noch der Text eines Songs zusammen wirken.
Ich möchte im Folgenden zwei Videoclips vorstellen, in denen der Herrenanzug eine zentrale, wenn auch unterschiedliche Rolle spielt.
Das erste Beispiel ist das offizielle Video zum Lied „Tausend Tränen tief“ der Gruppe Blumfeld.
In der ersten Sequenz des Musikvideos ist ein beschlagener Badezimmerspiegel zu sehen, dann ein Mann jenseits der Fünfzig, der sich in diesem Spiegel betrachtet. Es handelt sich um den Schauspieler Helmut Berger. Das Lied „Tausend Tränen tief“ ist ein sehr romantisches Liebeslied, und das Video erzählt die Vorgeschichte zu einem Treffen, m.E. einem Rendezvous, zwischen dem älteren Mann (Berger) und einem jüngeren Mann (dargestellt von dem Sänger der Gruppe Blumfeld, Jochen Distelmeyer).
Während in Zwischenschnitten Distelmeyer zu sehen ist, der im Taxi auf dem Weg zu dem Treffen das Lied singt, stellt das Video im Haupterzählstrang Berger bei seinen Vorbereitungen für das Rendezvous in seinem Hotelzimmer dar. Nachdem der Spiegel als Symbol der Selbstbetrachtung, der Selbstreflexion, zunächst beschlagen ist, erkennt sich der Protagonist dann in diesem Spiegel, im Bademantel, in einem Kleidungsstück also, das Intimität symbolisiert und eine gewisse Schutzlosigkeit. Bereits in der nächsten Einstellung richtet sich der Blick auf einen Kleiderschrank voll mit Anzügen. Ebenso wird eine Schublade mit Krawatten geöffnet, und einige davon werden zusammen mit Hemden auf Jacketts gelegt – Variationen von Kombinationen, sich zu präsentieren. Dazwischengeschnitten wird das ernste und konzentrierte Gesicht von Berger bei der Auswahl der ‚richtigen‘ Kombination. Man merkt, es geht um viel bei dieser Auswahl. Als diese schließlich getroffen ist, sieht man Berger, immer noch im Bademantel, mit dem Anzug aus dem Bild gehen. Nach einer Zwischenszene (Distelmeyer im Taxi) sieht man Berger, der sich im Spiegel betrachtet, mittlerweile in Hemd und Anzug, und sich die Krawatte bindet. Der offizielle Mann ist hergestellt, wenngleich sein Blick immer noch sehr kritisch prüfend ist. In der nächsten Einstellung schreitet Berger durch den Flur des Hotels, sehr repräsentativ, sehr würdevoll und gleichzeitig attraktiv kommt der ‚hergestellte Mann‘ auf die Betrachterin/den Betrachter zu und geht an der Kamera vorbei ins Off. Nach einer weiteren Zwischenszene (Distelmeyer im Taxi) und einem Feuerwerk, das auf andere Eruptionen verweist, sieht man Berger einen Aufzug betreten, im Aufzug ist in Nahaufnahme sein angespanntes Gesicht zu sehen, und er führt nachdenklich oder Trost suchend die Hand zum Kinn. Gegen Ende der Aufzugfahrt scheint er sich etwas zu entspannen, und man sieht ihn von hinten, wie er auf den bereits in der Hotellobby wartenden Distelmeyer zugeht. Distelmeyer, in schwarzem Pullover und schwarzer Hose, erhebt sich, um Berger zu begrüßen. Dieser setzt sich auf den gegenüberstehenden Sessel, lehnt etwas zu trinken ab, Berger verschränkt die Hände mit den Fingern, und Distelmeyer ahmt diese Geste spiegelbildlich nach, die körpersprachlich als ein Sich-Abschotten interpretiert wird. Aber nach einer kleinen Bemerkung von Distelmeyer ist die Spannung gelöst, und Berger lächelt, spiegelbildlich Distelmeyer ebenso, dann lacht Berger sogar, und das Video endet mit einer Sequenz von Spaziergängern in einer winterlichen Landschaft am Ufer eines Sees.
Der Anzug fungiert in diesem Video als ‚Rüstung‘ für den älteren Mann, um der aufregenden, aber auch verunsichernden Situation eines ersten Rendezvous souverän begegnen zu können. Man verfolgt die Metamorphose vom ‚Privatmann‘ mit seinem vergleichsweise privaten, durchaus ‚weiblichen‘ Kleidungsstück des Bademantels (weicher Stoff und Rock auf einem nackten Körper) hin zur offiziellen Silhouette eines attraktiven und gepflegten Mannes ‚in den besten Jahren‘ der sich im öffentlichen Raum bewegt und dort seinem qua Alter resp. Jugend als attraktiver geltenden potentiellen Liebespartner begegnet, der seinerseits seinen Körper nicht verhüllt, sondern im Gegenteil durch die eng anliegende schwarze Kleidung eher betont.
Im offiziellen Video „Rückenwind“ des Sängers und Musikers Thomas D. (auch Mitglied der Gruppe „Die fantastischen Vier“) symbolisiert der Herrenanzug die Konvention als Kontrast zur Fluchtphantasie des Liedtextes und deren visueller Umsetzung im Video:
Zunächst ist der Protagonist Thomas D. zu sehen, wie er Musik macht, dann, wie er über ein Gitter (der Alltagszwänge) klettert, wie er sich seiner überdimensionalen Jacke (belastendes Gepäck der Alltagsrolle) entledigt und so elegant wie ein Turmspringer in ein Schwimmbecken springt oder wie ein Fallschirmspringer in den freien Flug, eine riesige Hochhausfassade entlang, hinter der sich Szenen des alltäglichen Lebens abspielen: Kinder, die Thomas D. bestaunen, eine schlafende Frau, die Bläser des Songs als surrealistische Einlage, ein Mädchen, das mit seinem Schoßhund einen Aufzug betritt. Dann springt Thomas D. in den Raum, in dem seine Musiker spielen, und singt mit ihnen zusammen. Er fliegt weiter am Hochhause entlang, sieht einen schlafenden Menschen, küsst durch eine Fensterscheibe eine Frau in Lack und Leder und sieht im Hintergrund rauchend einen Mann im Sessel warten (möglicherweise den Freier der Frau). Schließlich begegnet er sich selber im Anzug. Und, sehr interessant, das Alter Ego im Anzug, mit Hemd und Krawatte und ordentlich nach hinten gekämmten Haaren, fängt zusammen mit dem ‚freien‘ und nahezu unbekleideten Thomas D. an, den Text zu singen: „Ich packe meine Sachen und bin raus mein Kind, Thomas D. ist auf der Reise und hat Rückenwind!“. Der Anzugmann ist (noch) gefangen im Zimmer und im Anzug der Konvention, und Thomas D. befindet sich draußen, fliegend, frei und wild. In der vorletzten Szene betritt der Anzugträger den Aufzug mit dem Mädchen und dem Schoßhündchen, das Symbol für den Weg nach draußen, während in der letzten Szene Thomas D. auf den Boden zufliegt, wo sein Alter Ego im Anzug schon auf ihn wartet Diese Schlussszene ist vieldeutig, sie könnte einerseits bedeuten, dass der Aussteiger, der fliegende Thomas D., wieder auf dem Boden der Tatsachen und damit auch wieder in der Konvention (der Anzugträger wartet schon) landet. Oder aber dass der Anzugträger, der konventionelle Mann, den Weg nach draußen erreicht hat und von dem unkonventionellen Mann abgeholt wird.
Sowohl in der Werbung, als auch in Karriereratgebern und Musikvideoclips fungiert der Herrenanzug derzeit noch als Symbol männlicher Souveränität und Universalität. Jedoch werden diese Funktionen zunehmend in Frage gestellt, und der universale Geltungsanspruch des Herrenanzugs erodiert aufgrund mehrerer gesellschaftlicher Trends: (1.) durch den Trend, konventionelle Banker- und Managerkleidung abzulehnen, da die Berufstände durch die aktuelle Wirtschafts- und Finanzkrise stark in Misskredit geraten sind; (2.) durch den Trend zu informellerer Kleidung, wie ihn zum Beispiel die IT-Berufe in Unternehmen eingeführt haben; (3.) durch den höheren Anteil an Mitarbeiterinnen in Unternehmen, für die – wenn auch adaptierte – jedoch auch variierte Dresscodes gelten, und (4.) durch den Trend zur stärkeren Körperbetonung und damit Individualisierung der Anzugmode, die mit der zunehmenden Pflicht zur Körperarbeit und Körperdarstellung auch bei Männern zusammenhängt.
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URN urn:nbn:de:0114-qn102331
Dr. Gudrun Schäfer
Universität Paderborn
Koordinatorin des Projekts „Frauen gestalten die Informationsgesellschaft“ an der Universität Paderborn. www.upb.de/women, Referentin für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit der Fakultät für Elektrotechnik, Informatik und Mathematik an der Universität Paderborn. Langjährige wissenschaftliche Mitarbeiterin für Publizistik bzw. Medienwissenschaft an den Universitäten Bochum und Paderborn.
Homepage: http://groups.uni-paderborn.de/women/initiative/gudrun.html
E-Mail: gschaefer@date.upb.de
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